Kindheitsmuster
Wörtern, die ihr in eurer Jugend benutzt habt, ist durch die Kriege und andere Vernichtungsaktionen verschlissen. Schrecklich, gräßlich, abscheulich, furchtbar hat man zu oft sagen müssen, man kann es nicht mehr gebrauchen. Nur Menschen wie Tante Trudchen – Trudchen Fenske, die sich ja in den ersten Kriegsjahren hat scheiden lassen, was natürlich furchtbar war – nehmen immer dieselben Wörter in den Mund, wenn auch die Anlässe immer geringer werden, für die sie sie benutzen.
Du hast plötzlich verstanden, warum Lenka euch nicht glücklich nennen wollte (beide zusammen am ehesten, aber einzeln? Kaum ...) und warum sie darauf auswar, ihre eigene Art Glück zu finden. Euer Gang mußte ihr als Indiz genügen, die unfreie Haltung, die mechanische Bewegung der untrainierten Beine, die verfestigte Zielstrebigkeit. Konnte etwa Neid in dir hochkommen, als du ihr zusahst, wie sie, sich leicht mit einer Hand abstützend, seitlich über die Eisenbarriere schwang? (Ein Hochsprungtalent, sagte ihr Sportlehrer, leider ungenutzt wie alle ihre Talente, da wäre was draus zu machen gewesen; ihr lässiges Abwinken: Leistungssport etwa? Geschenkt!) Wie sie, übergangslos, in einen Tanzrhythmus fiel, der ihr angeboren zu sein scheint, vor euch her tanzte, das Holzkreuz in Schwung brachte. Dein flüchtiges Bedauern über zu früh erzwungene und nun fortschreitende Versteifungen, Schlackeablagerungen in Muskelpartien, Abfälle heißer und kalter Kriege, an denen man nicht ungestraft teilnimmt, aus denen man nicht ungezeichnet hervorgeht – während die Nachricht dieser Minute aus dem kleinen Transistorradio auf deinem Schreibtisch lautet: Das amerikanische Verteidigungsministerium habe am Abend bekanntgegeben, daß eine begrenzte Zahl amerikanischen Militärpersonals im Zusammenhang mit der amerikanischen Waffenhilfe nach Israel entsandt worden sei.
Die Meldung wurde später dementiert.
Selten kennt man das Gewicht der eben angebrochenen Stunde. Es ist Freitag, der 19. Oktober 1973, ein kühler, regenreicher Tag, 18 Uhr 30 Minuten. In Chile hat die Militärjunta den Gebrauch des Wortes »compa-Çero« verboten. Es gibt also keinen Grund, an der Wirksamkeit von Wörtern zu zweifeln. Auch wenn jemand, auf dessen ernsthaften Umgang mit den Wörtern du seit langem zählst, keinen Gebrauch mehr von ihnen machenkann, sich gehenläßt und diese Tage zeichnet mit dem Satz: Mit meiner verbrannten Hand schreibe ich von der Natur des Feuers. Undine geht. Macht mit der Hand – mit der verbrannten Hand – das Zeichen für Ende. Geh, Tod, und steh still, Zeit. Einsamkeit, in die mir keiner folgt. Es gilt, mit dem Nachklang im Mund, weiterzugehn und zu schweigen.
Gefaßt sein? Worauf denn? Und von Trauer nicht übermannt? Erklär mir nichts. Ich sah den Salamander durch jedes Feuer gehen. Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.
Ein ferner, früher, nun denn: schauerlicher Tod. (»Sollt ich die kurze schauerliche Zeit ...«) Ein dunkler Faden schießt in das Muster ein. Unmöglich, ihn fallen zu lassen. Ihn aufzuheben beinah noch zu früh.
Das Gebot ist: Sich verlassen, in des Wortes Doppelsinn. Nach kurzem Taumeln, verursacht durch die vermehrte Last auf den Schultern, sich straffen. Es muß geredet werden. Erzählt muß werden von des Vaters aschgrauem Gesicht und von Gründen, die die Zahl Fünf lange Zeit zu etwas Bedrohlichem machen, wie Fleischerhaken ...
Fronturlaube werden gewährt, wenn die allgemeine Lage die Entfernung von der Truppe grundsätzlich erlaubt. Diese Lage war in Polen, unter das »ein Strich gezogen war«, im Oktober 39 schon gegeben. 10 572 Gefallene, 30 322 Verwundete, 3403 Vermißte deutscherseits. Zwei neue Reichsgaue, Danzig und Posen, waren »aus dem Feuer der Schlacht gehoben«. Da war es November. Ein Nebelnachmittag, Nelly kam vom »Dienst«. Da hingen im Korridor an der Flurgarderobe ein fremder, schwerer feldgrauer Mantel, eine Soldatenmützeund ein braunes Lederkoppel mit silbrig glänzender Schnalle, dem eingravierten Adler und der Aufschrift: Gott mit uns. Der Geruch des Mantels, in den Nelly ihr Gesicht vergrub, ehe es ihr möglich war, ins Eßzimmer zu gehen, wo nach so vielen Wochen endlich wieder Zigarettenrauch in der Luft hing, wo der Vater am Tisch saß, Bruder Lutz auf dem Schoß, die Mutter ihm gegenüber, während der Hauptgeschäftszeit am Sonnabendnachmittag. Sie goß dem Vater Kaffee ein und sah ihn an ... Nelly brach sofort in Tränen aus. Wie fast immer wurden ihre
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