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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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oder ein »Übrigens« vorkam. Es lag euch aus irgendwelchen Gründen daran, daß sie euch für glückliche Erwachsene hielt, während Lutz, ihr Onkel, die Zeit für gekommen glaubte, seiner Nichte ein paar Takte über die Differenz zwischen jugendlichen Glücksansprüchen und dem realen Lebenzu sagen. Ihr hieltet gerade vor dem Eingang des Stadions und wart im Begriff auszusteigen. Du hattest darum gebeten – angeblich, um einen eingeschlafenen Fuß zu vertreten, in Wirklichkeit, um das Holz des Drehkreuzes neben dem Kassiererhäuschen noch einmal in der Hand zu spüren und um dich noch einmal an das eiserne Geländer zu hängen, das den pappelumsäumten Hauptweg an beiden Seiten begleitet und dessen rauhes Eisen einem gleich in den Handflächen brennt.
    Erinnert man sich der Hitze dieses Tages? Jetzt war es beinah ein Uhr mittags, und ihr hofftet, sie könnte nicht mehr höher steigen. Das Drehkreuz in der Hand, es unbewußt, spielerisch hin und her drehend, zuerst gar nicht, dann sehr verwundert, daß es an der gleichen Stelle wie vor siebenundzwanzig Jahren auf die gleiche Weise knarrte (mußte das nicht eine Täuschung sein? Eine Täuschung heute oder damals?); dich schließlich anlehnend, so daß du die Drehung des Kreuzes blockiertest, schlugst du, zögernd zwar und natürlich spaßhaft, deiner Tochter Lenka H. und dich selbst als »glückliche Erwachsene« vor.
    Lenka, geübt, ging auf den Spaß ein, verbarg, was sie dachte oder im Innern sah, zog übertrieben die Augenbrauen hoch und sagte: Ihr?
    Warum soll es ein Makel sein, bei den eigenen Kindern nicht für »glücklich« zu gelten? Es begann ein Feilschen gegen das altmodische Wort. Es war euch bewußt, daß ihr Lenkas Blicke wenigstens einmal noch, wenigstens diesen Tag lang zweifelsfrei, also kindlich sehen wolltet. Mit unlauteren Mitteln brachtest du sie zu der Erklärung, sie hielte euch doch wahr und wahrhaftignicht für »unglücklich« – im Gegenteil sogar. Was aber das Gegenteil von unglücklich ist, sagte sie nicht. (Sie sagt nicht, was sie nicht sagen will, im Gegensatz zu dir; Nelly, in Lenkas Alter, hat auch kein Wort gesagt, das sie nicht sagen wollte. Es wäre des Überlegens wert, wann man anfängt, die ungewollten Wörter zu sagen.)
    Im Stadion haben alljährlich im Herbst die Reichsjugendwettkämpfe im Laufen, Weitsprung und Schlagballwerfen stattgefunden. Nellys Werte waren beachtlich und wurden mit Siegernadel und Urkunde anerkannt, Nelly war auf der Höhe ihrer sportlichen Leistungsfähigkeit und gehörte zu den zehn Besten des Jungmädelstandorts, die an den Bannmeisterschaften teilnehmen durften, ebenfalls in diesem Stadion. Alle Rasenflächen und Aschenbahnen wimmelten von Mädchen und Jungen in schwarzen Turnhosen und weißen Turnhemden, auf denen der Rhombus mit dem Hakenkreuz in der Mitte aufgenäht war, und die Zuschauertribünen und Umkleidebaracken waren von braunen Hemden und weißen Blusen, blauen Röcken und kurzen schwarzen Hosen, schwarzen Dreiecktüchern und geflochtenen Lederknoten, Jungvolkdolchen und Schulterriemen überschwemmt; schreiende, eifrige, verschwitzte Massen, die zu Trupps geordnet und in die Wettkämpfe geschickt werden, gezähmt und gebändigt durch Sekundenbruchteile und Millimeterdifferenzen.
    Den Körper stählen. Körper und Geist stählen durch Sport.
    Die Elsberg-Papiere also, für deren Entwendung und Veröffentlichung jener Elsberg inzwischen seinen Prozeß und seinen Freispruch bekommen hat. Ob es dennmenschenmöglich sei, wollte Lenka wissen, daß durch eine Reihe von Geheimdienstmanipulationen und eine Kette haarsträubender Nachlässigkeiten und durch das unglaubliche Versagen allerhöchster Personen wie des Präsidenten der Vereinigten Staaten – John F. Kennedy – jene Folge von Putschen, Gegenputschen, Ermordung bisheriger Verbündeter ausgelöst werden könne, die man von einem bestimmten Augenblick an »Krieg« nennen mußte, Vietnamkrieg.
    Menschenmöglich – ja. Unter bestimmten Bedingungen, sagtet ihr. Von denen ihr einige nanntet. Es muß, unter anderem, der weiße Präsident eines großen und mächtigen Landes die Lebensweise seiner Schicht und seiner Rasse für die einzig menschliche Art zu leben halten, dann kann er ein Telegramm nachlässig unterschreiben, über dessen Tragweite für eine Bevölkerung anderer Hautfarbe und Lebensweise er sich erst später klar wird.
    Lenka gebrauchte Ausdrücke wie »irre«, »mies«, »widerlich«, »beschissen«; die Garnitur von

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