Kindheitsmuster
Ultimaten, Garantieerklärungen, Protokollen von Geheimbesprechungen. (»Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht«: Adolf Hitler vor den Oberbefehlshabern der Wehrmachtteile.) Gesetzt den Fall, sie hätten Einblick bekommen in die Texte der in letzter Stunde unterzeichneten Nichtangriffspakte und nicht nur die Bedingungen des 16-Punkte-Programms an die Polen gekannt, das ja über alle Reichssender verbreitet wurde, sondern wären auch in die Alibifunktion dieses Programms eingeweiht worden: Am späten Abend des 31. August, als die 16 Punkte gesendet wurden, war der Beginn des Überfalls auf Polen für den 1. September 4 Uhr 45 festgesetzt, wurden die Sonderkommandos, welche polnische Überfälle auf den Sender Gleiwitz, das Zollhaus Hochlinden, Kreis Ratibor, und das Forsthaus Pitschen, Kreis Kreuzberg, vorzutäuschen hatten, schon in polnische Uniformen gesteckt. Vorausgesetzt, sie hätten wirklich Kenntnis bekommen von dem Brief Mussolinis, der den ursprünglich auf den 26. August angesetzten Kriegsausbruch um sechs Tage verschob, weil die Italiener sich als nicht genügend vorbereitet erklärten, ihre Bündnispflichten gegenüber dem deutschen Achsenpartner zu erfüllen: Angenommen, diese und andere Geheime Kommandosachen wären in alle Häuser gelangt: Was hätte sich geändert?
Die Frage stellen heißt sie beantworten.
Es gibt ein Jordansches Familienfoto, angefertigt vom Unteroffizier Richard Andrack, der nach dem Polenfeldzug,als die älteren Jahrgänge in den Heimatdienst versetzt worden waren, mit Bruno Jordan an einem Schreibtisch im Wehrbezirkskommando saß und der von Berufs wegen Fotograf, nebenberuflich Hypnotiseur war. Das Foto wurde unter Anwendung der Blitzlichttechnik im Herrenzimmer hergestellt, und zwar so, daß die Kamera auf ihrem Stativ in der Verbindungstür zum Wohnzimmer stand und genau die Sitzgruppe um den Kacheltisch herum erfaßte. Auf zwei Sesseln und der Couch sitzen Eltern und Kinder nebeneinander und einander gegenüber. Eine gewisse Steifheit vor der Kamera kommt auf Kosten der Ungeübtheit der Fotoobjekte. Immerhin: Steil aufgerichtet blicken sie lächelnd aneinander vorbei, in die vier Ecken des Herrenzimmers.
Niemals wird man beweisen können, daß Millionen solcher Familienfotos, übereinandergelegt, etwas mit dem Ausbruch eines Krieges zu tun haben können.
Es ist schon so, wie Onkel Emil Dunst, der die Bonbonfabrik des Juden Geminder so lange betrieb, bis alle zur Bonbonherstellung benötigten Grundstoffe hoffnungslos »verknappt« waren, zu seiner Schwägerin Charlotte sagte: Was wir Deutschen zusammenschuften, das geht auf keine Kuhhaut geht das. Das soll uns erst mal einer nachmachen. Mit der ganzen übrigen Bagage bleib mir zehn Schritte vom Leib!
Gleichzeitig höchste Genugtuung über die Meldung, deutsche Heeresverbände hätten »Feindberührung«. Nelly mußte sich fragen, wie man sich den Feind zugleich vom Leibe halten und mit ihm in Berührung kommen sollte. Die Antwort war einfach: Man berührt den Feind, um ihn zu vernichten. Man versetzt ihm mit gepanzerter Faust tödliche Schläge.
Nelly hatte fünfundzwanzig Minuten zu laufen, um sich in den Kyffhäuser-Lichtspielen nachmittags die letzte Ausgabe der Tobis-Wochenschau anzusehen, inmitten von Kindern und alten Leuten, die einen wollüstigen Laut ausstießen und die Köpfe einzogen, wenn deutsche Flugzeuggeschwader über den Wochenschauhimmel donnerten, und die ein abfälliges Gemurmel von sich gaben, wenn die Kamera über die Gesichter polnischer Untermenschen schwenkte, die in Gefangenschaft getrieben wurden. In der Hauptvorstellung liefen »Robert Koch, der Bekämpfer des Todes«, »Der Mustergatte« mit Heinz Rühmann, ferner »Charleys Tante« und »Es war eine rauschende Ballnacht«. Das Stadttheater eröffnete seine Spielzeit mit »Wiener Blut«.
Zufällig waren in den Zeitungen, die während eurer zweitägigen Polenreise am 10. und 11. Juli 1971 hinten neben dem uralten gelben Wachstuchlöwen, dem Maskottchen, im Auto lagen, Auszüge aus den Pentagon-Papieren veröffentlicht, die ein Mann namens Elsberg entwenden und den gewöhnlichen Amerikanern zugänglich machen konnte. Lenka, die irgendwann in die Zeitung gesehen haben mußte, kam aus heiterem Himmel darauf zu sprechen, und zwar, indem sie zuerst die Frage stellte: Kennt ihr eigentlich irgendeinen erwachsenen Menschen, der vollkommen glücklich ist?
Damals fingt ihr wohl an, auf die Sätze Lenkas zu horchen, in denen ein »Eigentlich«
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