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Kindheitsmuster

Kindheitsmuster

Titel: Kindheitsmuster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Buchrücken in den Bibliotheken nicht mehr nach Metern, sondern nach Kilometern zu messen sind. Der Krieg ist trotz allem bis heute etwas nicht Aufgeklärtes oder nicht genügend Besprochenes. Wir sind übereingekommen, über ein gewisses Bild des Krieges, in einem gewissen Stil vom Kriege zu schreiben oder ihn zu verdammen, doch fühlt man darin irgendein Verschweigen, ein Vermeiden jener Dinge, die immer wieder eine seelische Erschütterung verursachen. – Der Pole Kasimierz Brandys, den du ohne Anführungszeichen zitierst, spricht auch von einer wahnsinnigen Veränderung der Verhältnisse durch den Krieg.
    Von einer Entblößung der Eingeweide.
    Doch kann auch das Ausbleiben wahnsinniger Veränderungen enttäuschen. Die immer schneller und lauter wie in einem Wirbel sich wiederholenden Ausrufe: Danzig! Polnischer Korridor! Volksdeutsche! Mord! Lebensraum! steigerten sich für Nelly zwar folgerichtig zu einem Schrei: Sender Gleiwitz! Westernplatte! undzu dem Satz: Von heute morgen an wird zurückgeschossen. Ein Satz, der das Herz anhob und es spürbar wieder zurückfallen ließ, als sei das Herz ein Tennisball und ein Satz des Führers könnte es springen lassen.
    Herr Gaßmann, ihr Geschichtslehrer (Nelly war in die erste Klasse der Oberschule aufgerückt), erschien in brauner Amtswalteruniform und verkündete: Dieser Art seien die Sätze, mit denen der eherne Mund der Geschichte selber spräche. Studienrat Gaßmann sprach aus, was Nelly empfand, aber er verschwieg, ob nicht auch er insgeheim enttäuscht war über die Fortdauer des schönen Herbstwetters, das den ganzen Polenfeldzug über anhalten sollte. Ob nicht auch er sich, wenn schon Krieg war, das Leben als Dauersondermeldung gewünscht hätte und nicht ein ganz kleines bißchen die Fortdauer alltäglicher Verrichtungen bedauerte.
    Nelly war rauschsüchtig geworden.
    Vielleicht hätte der Jubel entlang der Soldiner Straße beim Auszug der Garnisontruppen aus der Walter-Flex-Kaserne lauter sein können, aber man mußte bedenken, die Straße war schwach besiedelt. Und nicht nur daß Nelly und Charlotte Jordan Zigarettenpäckchen auf die Militärwagen warfen, auf denen in Reih und Glied die Soldaten saßen, die Enden ihrer Gewehrläufe schnurgerade in Nasenhöhe ausgerichtet – auch andere Anwohner waren zur Stelle, in der Mehrzahl Leute, denen sich von August 14 her die Vorstellung eingeprägt hatte, Kriege begännen mit der Verteilung kleiner Herbststräuße an die ins Feld rückende Truppe. Was stand denn an den Lastwagen? »Zu Weihnachten auf Wiedersehn!« stand da. Das las sich gut.
    Man hatte es ja, was das Informationswesen betrifft,mit einer unterentwickelten Epoche zu tun. Heutzutage gehen die ersten lebenden Bilder von jeglichem Kriegsschauplatz – sogar von Chile, wo natürlich die Junta gleich nach dem Standrecht die Zensur verhängte – über die Sender. Die heimlich aufgenommenen Filmstreifen verlieren das Professionelle, sind unscharf, verwackelt, heftig bewegt. Der Kameramann filmt seinen eigenen Mörder, den Mann, der das Gewehr auf ihn anlegt. Zusammen mit ihm selbst schwankt die Kamera, fällt, das Bild erlischt. Dann: Verkrümmte Leichen am Rand einer staubigen Straße, auf der, an den Leichen vorbei, zwischen ihnen hindurch, Leute gehen, ohne zu ihnen hinzublicken.
    Zu keiner Zeit zwischen 1933 und 1945 haben die Korrespondenten westlicher Nachrichtenagenturen ihren Lesern derartige Bilder aus Deutschland liefern können. Die Leichen lagen nicht draußen herum. Sie starben in Kellern und Baracken. Es war ein Entgegenkommen der Totschläger an die europäische Mentalität, das auch nicht ganz und gar unbelohnt blieb. Der Lohn hieß Nichteinmischung.
    Historiker frohlocken über das reiche Dokumentenmaterial aus der Zeit, die hier zur Rede steht. Allein für die dreizehn Nürnberger Gerichtsverfahren, liest man, seien 60 000 Dokumente zusammengetragen worden, deren vollständige Aufarbeitung oder gar Veröffentlichung Unsummen verschlingen würde. Dokumente scheinen es doch nicht zu sein, an denen es uns fehlt oder an denen es jenen damals Lebenden, den Jordans und Menzels und Raddes, gefehlt haben mag. Vorausgesetzt, die Anwohner der Soldiner Straße hätten durch Zufall oder durch das Abhören feindlicher Sender (diesich womöglich über diesen Punkt auch ausgeschwiegen haben, solange ihre Regierungen in Geheimverhandlungen mit der Reichsregierung standen) Zugang gehabt zu gewissen Noten, Zusicherungen, Forderungen, Ablehnungen,

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