Kindspech: Tannenbergs achter Fall
Hauses dieses Geräusch hören konnte. In aller Ruhe nahm er noch einen großen Schluck Wein, dann begab er sich zu dem Überwachungsmonitor. Das kleine Mädchen stand am Gitter und klammerte die winzigen Händchen an den Stäben fest. Es weinte bitterlich.
Er ging die Treppe hinunter und öffnete die Tür des schallisolierten Kellerraums. Der penetrante Fäkaliengeruch stieg ihm sofort in die Nase. Die Vorstellung, dass diese samtweiche Kinderhaut nun mit Kot verschmutzt war, ließ ihn vor Ekel erschaudern. Er schleppte sich würgend zur Toilette und erbrach sich mehrmals.
Montag, 5. August
6 Uhr
Der Pathologe Dr. Rainer Schönthaler hatte bis tief in die Nacht in seinem Labor gearbeitet. Trotzdem hatte ihn seine innere Uhr wie immer um dieselbe Zeit geweckt. Obwohl er ein leidenschaftlicher Frühaufsteher war, hätte er doch manchmal gerne ein Stündchen länger geschlafen. Besonders in dieser viel zu kurzen Nacht, in der er bis zum Morgengrauen wach gelegen hatte. Er hätte wirklich dringend Erholung gebraucht. Die Entführung der kleinen Emma nahm ihn gewaltig mit. Nicht nur, weil er ihr Patenonkel war, nein, auch deshalb, weil er der Familie Tannenberg bereits seit seiner Schulzeit außerordentlich zugetan war.
Als Einzelkind aufgewachsen und von einer gluckenhaften Mutter streng behütet, zog es ihn in jeder freien Minute in die Beethovenstraße zu dieser urigen Großfamilie, die sich schon damals über drei Generationen erstreckte. Von hier aus unternahm er mit den Tannenberg-Brüdern und deren Cousins ausgedehnte Streifzüge in den südlichen Stadtwald, zum alten Steinbruch in der Kohlenhofstraße, zum Lämmchesberg oder zum Güterbahnhof.
Nachdem der Rechtsmediziner geduscht und sich angekleidet hatte, absolvierte er seinen obligatorischen Morgenspaziergang zum nahe gelegenen Hauptbahnhof. Dort kaufte er jeden Tag in aller Herrgottsfrühe die Frankfurter Allgemeine . Natürlich hätte er die Tageszeitung auch abonnieren und sie sich von einem Boten zustellen lassen können. Aber wegen der verzögerten Lieferung hätte er nach dem Aufstehen noch mindestens eine Stunde auf die Lektüre seiner Lieblingszeitung warten müssen. Und das passte nun ganz und gar nicht in seinen streng festgelegten Tagesablauf.
Außerdem konnte er sich in der Bahnhofsbäckerei mit frischen Brötchen eindecken, die zentrale Bestandteile seines immer gleichen Frühstücks waren. Besondere Sorgfalt legte er dabei auf die genaue zeitliche Abstimmung der einzelnen Schritte, die minutiös hintereinandergeschaltet waren.
Zuerst zerteilte er die beiden Brötchen exakt in der Mitte, dann bestrich er die einzelnen Teile mit streichzarter Butter, um anschließend zwei davon mit Lindenblüten- und Tannenhonig zu betropfen und die anderen beiden Hälften mit Aprikosen- und Erdbeermarmelade zu bestreichen.
Genau in dieser Reihenfolge verleibte er sich die Brötchen ein, wobei die Erdbeermarmelade routinemäßig den Abschluss und lukullischen Höhepunkt des süßen Frühstücksmahls bildete. Eine Leidenschaft, die er mit Wolfram Tannenberg teilte. Die Freunde waren irgendwann einmal zu dem Ergebnis gekommen, dass ihre Marmeladen-Präferenz auf die unzähligen im Hause Tannenberg vertilgten, mit selbst gemachter Erdbeerkonfitüre veredelten Roggenbrotscheiben zurückzuführen war.
Anschließend gab der Pathologe exakt drei gehäufte Löffelchen Kaba in eine große französische Kaffeetasse, übergoss sie mit heißer Vollmilch und verrührte das Pulver mit der Flüssigkeit. Dann folgte das ritualisierte Eintauchen der Brotspitze in den zart duftenden, leicht cremigen Kakao und der genüssliche Biss in das angeweichte Brötchen.
Dr. Schönthaler war bekannt dafür, dass er sehr auf eine gepflegte äußere Erscheinung und gute Manieren achtete – eine Eigenart, die ihm nicht selten hämische Bemerkungen von Seiten Tannenbergs einbrachte. Trotzdem gestattete er sich diesen Rückfall in die Welt der Barbarei, zu köstlich war dieser einzigartige Geschmack.
Doch an diesem Morgen bereitete ihm die seit Kindertagen kultivierte Marotte nicht die geringste Sinnenfreude. Bereits zum dritten Mal dippte er wie ferngesteuert das Brötchen in den Kakao, ohne aber die schlaff herabhängende, triefende Spitze danach abzubeißen. Auch die ansonsten geradezu zelebrierte Zeitungslektüre verlief an diesem Morgen anders als gewöhnlich, denn knapp 24 Stunden nach Emmas Entführung vermochte er sich kaum auf die vor ihm ausgebreiteten Texte zu
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