Kindspech: Tannenbergs achter Fall
konzentrieren. Seine ruhelosen Gedanken schweiften immer wieder ab und beschäftigten sich mit dem Verlauf des gestrigen Tages.
Unter Hochdruck hatte er in seinem Labor gearbeitet und die DNA aus dem Täterfahrzeug mit dem aus Emmas Haaren gewonnenen Material verglichen. Es handelte sich definitiv um die gleiche DNA. Womit eindeutig geklärt war, dass es sich bei dem unfreiwilligen Fahrgast im Kofferraum des Taxis tatsächlich um Emma gehandelt haben musste.
Nach Geigers Recherchen wurde das Taxi vor zwei Tagen in Dortmund gestohlen, ebenso wie das Kaiserslauterer Autokennzeichen, das vorgestern in einem Parkhaus in der Innenstadt abmontiert worden war. Die ausgelöste Ringfahndung blieb zwar die Nacht über bestehen, sollte jedoch in ein paar Stunden aufgehoben werden. Bislang hatte sich noch nicht einmal die Spur eines Hinweises auf das neue Fluchtfahrzeug des Täters ergeben. Auch Sabrinas Befragungen in Hohenecken hatten noch zu keinem greifbaren Ergebnis geführt: Sie hatte noch niemanden ausfindig machen können, der irgendeine sachdienliche Beobachtung in der Nähe des Grillplatzes gemacht hatte.
Aufgrund dieser frustrierenden Rückmeldungen konzentrierten sich die Hoffnungen der Kriminalbeamten auf die Telefon-Fangschaltung in der Villa Krehbiel. Aber auch dort hatte sich bis zur Stunde nichts getan: kein Lebenszeichen von Emma, keine Lösegeldforderung des Entführers.
Dr. Schönthaler betrachtete seufzend ein großes Porträtfoto, das auf seinem Küchenschrank stand und die kleine Emma zeigte: Sie saß neben Kurt und lachte in die Kamera. Erst vor ein paar Tagen hatte er das gerahmte Bild von ihren Eltern geschenkt bekommen.
Deprimiert kehrte sein leerer Blick zurück zur Zeitung und schwebte über die fett gedruckten Lettern der Schlagzeilen. Deren Inhalt drang nur bruchstückhaft in sein Bewusstsein vor: ›Raketen‹, ›Schwäche‹, ›Russland‹. Lustlos blätterte er weiter: ›Föderalismus‹, ›Skandal‹, ›Hedge-Fonds‹, ›Konsumgüter‹, ›Gewinnstrategien‹, ›Schwellenländer‹. Wieder schlug er gedankenversunken eine Seite um.
Plötzlich riss er Mund und Augen auf, sein Gesicht versteinerte sich. Vor Schreck glitt das Brötchen aus seiner Hand und landete in der großen Kaffeetasse. Hellbraune Flüssigkeit besprenkelte die Zeitung, schwappte über den Rand hinweg und vereinigte sich auf dem Küchentisch zu einem klebrigen Kreis.
Der Gerichtsmediziner wusste, dass Tannenberg die FAZ nicht abonniert hatte, sondern diese täglich an einem Kiosk kaufte. Für gewöhnlich las er sie erst im Büro während seiner Frühstückspause. Aus diesem Grund faltete er die Zeitung eilig zusammen, klemmte sie unter den Arm und hastete aus seinem in der Glockenstraße gelegenen Haus.
6 Uhr 50
Sein bester Freund wohnte quasi um die Ecke. Kaum hatte er auf dessen Klingelknopf gedrückt, schon erschien Margot im Treppenhaus und öffnete ihm ein paar Sekunden später die Tür.
»Wir sind alle in der Küche«, schniefte sie und setzte schwer atmend hinzu: »Es ist so schrecklich, Rainer.«
»Das ist wahr«, seufzte er und drückte sich an ihr vorbei. »Aber vielleicht hab ich ja eine heiße Spur entdeckt.«
Als er die Küche betrat, blickten ihm erwartungsvolle Mienen entgegen. Bis auf Mariekes Bruder waren alle Familienmitglieder in der Küche versammelt. Wolfram Tannenberg saß am Tisch. Er sah völlig übernächtigt aus, weitaus schlimmer noch als nach dem ausschweifendsten Zechgelage.
Er wirkte, als hätte er in seinen Kleidern geschlafen. Die Haare waren ungewaschen und zerwühlt. Unter seinen blutunterlaufenen Augen zeichneten sich dunkelgraue Ringe ab. Kummer und Schlafmangel hatten tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben, die Wangenknochen traten in dem eingefallenen Gesicht so scharf hervor, als wollten sie die Haut durchbohren. Die Hände vor sich auf der Tischplatte gefaltet, ließ er die Schultern hängen und starrte den Rechtsmediziner mit ausdruckslosem Blick an.
Dr. Schönthaler befeuchtete seine Fingerkuppen und blätterte die FAZ durch, bis er endlich die Seite mit den Todesanzeigen fand. So, als wolle er ein großes Wäschestück aufhängen, bewegte er die ausgestreckten Arme nach außen. Danach trat er hinter seinen Freund und ließ die auseinandergefaltete Zeitung über dessen Kopf auf den Tisch niedersinken.
»Schau dir das hier mal an«, forderte er und stellte sich anschließend seitlich neben ihn.
»Meine eigene Todesanzeige«, stieß Tannenberg entsetzt
Weitere Kostenlose Bücher