Kindspech: Tannenbergs achter Fall
die mitgebrachten Dokumente auf dem Schreibtisch aus. Mit routiniertem Blick sichtete der leitende Bankangestellte die betreffenden Urkunden.
»Na, da haben wir’s ja schon«, verkündete er mit einem strahlenden Lächeln: »Erstrangige Grundschulden in Höhe von insgesamt 240.000 Euro. Ich werde mich persönlich darum kümmern, dass Ihnen diese Summe bis 16 Uhr zur Verfügung steht. Wir benötigen lediglich noch einige Unterschriften von den Hausbesitzern. Gedulden Sie sich bitte noch ein wenig, meine Sekretärin wird die Darlehensanträge umgehend ausdrucken.«
Nachdem Tannenberg diese Schriftstücke ausgehändigt bekommen hatte, stürmte er in die Eingangshalle, wo er von Dr. Schönthaler erwartet wurde. Der Rechtsmediziner hatte seinen Freund zur Bank begleitet, war aber in einer anderen Abteilung verschwunden. Auch er konnte Erfreuliches berichten: Die Bank zahlte den von ihm gewünschten Betrag von 100.000 Euro bar aus. Als Sicherheit dienten Sparbriefe in gleicher Höhe.
»Na, das ist doch schon mal ein Anfang.«
»Schön, Wolf, aber es fehlen uns immer noch zwei Drittel.«
Mit einem Schlag war Tannenberg wieder auf dem harten Boden der Wirklichkeit gelandet. Seine anfallartige Euphorie zerplatzte wie eine Seifenblase.
»Ja, leider«, seufzte er und ließ frustriert den Kopf baumeln. »Wo sollen wir denn bloß das restliche Geld herbekommen?«
12 Uhr 45
»Für euch Besserwessis habe ich meine gesamte Mittagspause geopfert«, sagte eine barsche Frauenstimme mit markantem ostdeutschem Akzent. »Aber was tut man nicht alles für die Völkerverständigung.«
»Dafür, meine liebe Volksgenossin, ist Ihnen der Dank meines Vaterlandes gewiss«, parierte Michael. »Na, was hat die innerdeutsche Amtshilfe denn nun Spektakuläres aus den geheimen Stasi-Archiven zutage gefördert?«
Zunächst knackte es laut in der Leitung, dann ertönte ein zischendes Geräusch, das sich wie ein Luftstoß in ein Blasrohr anhörte.
»Hallo, sind Sie noch da?« rief er. Plötzlich hatte er Angst, mit seinen Provokationen zu weit gegangen zu sein. »Nichts für ungut, ich wollte Sie nicht ärgern. Ich finde es wirklich toll, dass Sie uns helfen. Wir wären nämlich ohne Ihre Hilfe ganz schön aufgeschmissen«, flötete er.
Die pikierte Dame am anderen Ende der Leitung schien ein wenig besänftigt, denn mit einer zwar nicht unbedingt freundlicheren, aber förmlicheren Stimme erwiderte sie: »Es geht also um den am 14.3.1956 in Rostock, Deutsche Demokratische Republik, geborenen Lars Ewald Mattissen.«
»Ja«, gab Michael einsilbig zurück.
»Mutter: Gerlinde Mattissen, geborene Reinke, aus der sozialistischen Volksrepublik ausgebürgert am 7.2.1959; Vater: Ewald Mattissen, verstorben am 13.10.1963 in Rostock«, leierte sie in einem bilderbuchmäßigen Bürokratenton herunter.
»Geschwister?«
»Nun mal langsam, junger Mann. So schnell schießen noch nicht mal die Preußen.« Es hörte sich an, als ob sie auf ihrem Schreibtisch in Unterlagen herumkramte. »Da haben wir’s ja: Knut Mattissen, ebenfalls geboren am 14.3.1956 in Rostock, Deutsche …«
»Also hat er einen Zwillingsbruder«, warf Kommissar Schauß dazwischen.
»Oh ha, ein Schnellmerker. Ich hab’s ja gleich gesagt: ein waschechter Besserwessi.«
Michael ignorierte die Frotzeleien. »Sind die beiden eineiige Zwillinge?«
»Ja.«
»Was wissen Sie noch über diesen Knut?«
»Knut Mattissen betreffend habe ich nur einen einzigen Aktenvermerk gefunden: Adoption am 9.4.1959.«
»Also zwei Monate nach der Flucht seiner Mutter und seines Zwillingsbruders in den Westen.«
»In den angeblich goldenen Westen. Das muss man sich mal vorstellen: Da hat diese Rabenmutter bei ihrer Republikflucht einfach die andere Hälfte des Zwillingspärchens in der DDR zurückgelassen.«
Michael verkniff sich die spitzen Bemerkungen, die ihm auf der Zunge lagen. Er wollte unbedingt weitere Informationen aus der Frau herausholen. Auf unerklärliche Weise hatte er das Gefühl, dass sie ihm irgendetwas verschwieg.
»Gibt es Angaben zu den Adoptiveltern?«
»Nee, darüber habe ich keine Unterlagen gefunden.«
»Heißt das, die Unterlagen sind verschwunden oder Sie haben sie nur noch nicht entdeckt?«
»Ja, mein lieber Superschlauer, das weiß man nie so genau. Unsere gute, alte DDR hat manch ein Geheimnis mit ins Grab genommen. Wünsche Ihnen noch einen wunderschönen Tag.«
Danach war die Leitung tot.
12 Uhr 50
Über zwei Stunden lang hatten Wolfram
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