Kindswut
Es sah nach einem Döner aus. Neben dem Teller stand eine halbleere Plastikwasserflasche. Eine Bratpfanne befand sich auf einem Campinggaskocher. Neben dem Bett stand außerdem ein großes, sehr schönes Akkordeon. An die Wand am Kopfende des Bettes war eine leere Staffelei gelehnt. Auf der Staffelei waren Farbspuren. Ich konnte mir keinen Reim auf dieses Stillleben machen. Offensichtlich hauste hier ein Künstler. Er war gerade nicht zu Hause. Aber wo war er? Mir schwante, dass es der liebe, aber schwierige Sohn sein musste, der diese Schlaf- und Wohnstelle auf der Terrasse aufgeschlagen hatte. Jetzt erst fiel mir auf, dass es in der großen Wohnung kein Zimmer gegeben hatte, das jenes des Sohnes gewesen sein könnte. Er hatte kein Zimmer. Er hatte seine Bettstelle auf dem Balkon.
Ich kehrte zurück in die Wohnung und nahm erneut vor dem Aquarium Platz. Ich war mal wieder, wie so oft schon in meinem Leben, in eine merkwürdige Situation geraten. Eine Mutter überredet mich, ihren 17-jährigen Sohn zu hüten und haut für eine Woche ab, ohne genauere Auskünfte über das Wohin und ihre Rückkehr zu geben. Der Sohn haust auf der Terrasse, ist aber unauffindbar, obwohl er, laut Aussage der Mutter, in der Wohnung ist, wenn auch versteckt. Ich war so blöde, mich auf die Bitte der Mutter einzulassen, weil mich ihr Parfum betörte, merkte das aber erst im Lift, als es zu spät war. Ein Fisch mit einem Höcker über dem Maul kam aus einer Höhle direkt auf mich zugeschwommen und schaute mich kurz an. Dann schwamm er zurück in seine Höhle. Dabei spuckte er kleine Steinchen aus. Was mache ich hier eigentlich?, dachte ich. Wo könnte der Sohn sich versteckt haben? Wieso machte ich mir überhaupt Gedanken über ihn? Fritz, leg die Schlüssel auf den Küchentisch und geh! Ganz schnell! Ich ging nicht. Ich ging in das Zimmer, in dem der große Schrank von mir stand. Ich hatte Erfahrungen mit großen Schränken. Als Kind lebte ich in einem großen Schrank, in dem die Pelze meiner Mutter hingen. Der Schrank, aus dem ich hinaus in die Welt horchte, war meine Welt. Im Schrank fühlte ich mich geborgen. Dieser Schrank aber war etwas Besonderes. Es war ein Krust’n-Schrank aus der Steiermark in Österreich. Dieser Schrank hatte fast die Ausmaße einer Kammer. In ihn hineingebaut war ein Beichtstuhl. Ich sah deutlich das Gitter, hinter dem der Priester im Schrank saß und die Beichte abnahm. Der Beichtende kniete auf einem Bänkchen, das vor den Schrank gestellt wurde. Der Schrank hatte seitlich rechts statt einer Schrankwand eine Türe, durch die der Beichtstuhl bestiegen wurde. Vom Beichtstuhl aus konnte man nicht ins Schrankinnere gelangen. Es gab keine Verbindung. Der profane Schrank und der Beichtstuhl waren strikt getrennt. Vom Beichtstuhl aus konnte man direkt ins nächste Zimmer sehen, in dem der pompöse Kronleuchter hing. Der Schrank hatte zwei mächtige Flügeltüren mit zwei großen Schlössern. In den Schrankboden eingelassen waren heraushebbare Kisten, in denen Nahrungsmittel, Würste, Schinken, Käse und allerlei Hausrat und Werkzeuge untergebracht werden konnten.
Der Schlüssel knirschte, als ich ihn im Schloss umdrehen wollte. Er bewegte sich nicht. Das Schloss war nicht abgesperrt. Die Schranktüre knarrte, als ich sie öffnete. Es war die rechte. Im Schrank hingen dicht an dicht Pelzmäntel. Zwischen den Mänteln hingen kleine Säckchen voll mit rosa Mottenkugeln. Im Schrank meiner Mutter hingen die gleichen Säckchen. Am Geruch der Mottenkugeln berauschte ich mich bis zum Taumel. Alles wurde leicht. Ich wurde zur Bachstelze, die sich wippend davonmachte. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht die Fassung zu verlieren, als ich vor den Pelzen stand. Ich fühlte mich mit Gewalt in meine Kindheit zurückversetzt. Zwischen den Pelzen saß auf dem Schrankboden ein Mensch mit angezogenen Füßen. Dieser Mensch hatte langes, verfilztes Haar, soweit ich das erkennen konnte. Die Pelze verdeckten ihn. Dieser Mensch hatte sich von einem Ohr zum andern ein breites Maul mit Zähnen quer über das Gesicht gemalt, das mich schaurig angrinste. Die Zähne bleckten. Das Grinsen erinnerte mich an den weit geöffneten, fletschenden Rachen des Pitbulls auf dem Bild im Schlafzimmer. Der Mensch, vermutlich der Sohn von Frau Stadl, schaute an mir vorbei, als stünde noch jemand hinter mir. Vielleicht hielt er Ausschau nach seiner Mutter. Dann sah er mich an. Er hatte große, blaue Augen. Es war kein besonderer Ausdruck in ihnen, wie
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