Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
Haus hatte große Balkone. Auf einem davon glühte die Spitze einer Zigarette. Ich hörte gedämpft Musik. Vielleicht stand die Balkontüre des Rauchers offen. »Kommst du?«, rief eine Frauenstimme von irgendwoher. Ich wurde sentimental. Mich hatte schon lange niemand mehr gerufen. »Kommst du?« Ich musste an Frau Stadl denken, als sie sich im Lift an mich lehnte. Ich hielt das Thema für erledigt.
    Ich schellte bei Maibaum. Der Summer ertönte. Ich drückte die Haustüre auf. Es war ein großes, weites Treppenhaus mit Marmorstufen. Es gab einen Fahrstuhl. Ich fuhr in den vierten Stock. Es war ein alter Fahrstuhl mit einem eisernen, laut quietschenden Scherengitter, das man aufschieben musste, um den Fahrstuhl zu verlassen. Frau Maibaum stand in der geöffneten Wohnungstüre. Es war unverkennbar die Frau auf der Zeichnung von Martha. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Sie hatte einen großen, aufgeworfenen Mund mit übervollen Lippen, die stark geschminkt waren. Ihre üppigen Rundungen hatte sie in einen giftgrünen Hosenanzug mit weißen Nadelstreifen gezwängt. Der Anzug war gewagt. Sie trug dazu rote Stöckelschuhe. Ihr Haar war lang, wallend und kastanienbraun. Das Gesicht wirkte leicht aufgedunsen. Sie rauchte eine Zigarette mit einer silbernen Zigarettenspitze, deren Mundstück aus Bernstein gefertigt war. Sie schaute mich aus grünen Augen kühl an. Trauer war in diesen Augen keine. »Ja?«
    Ich stellte mich vor und sagte, dass Ludwig verhindert sei.
    »Ja?«
    »Ich soll ihn vertreten.«
    »Vertreten?« Sie sah mich verständnislos an. Martha hatte sie offensichtlich nicht informiert.
    »Ich soll die Grabrede morgen halten, stellvertretend.«
    Jetzt fiel bei ihr der Groschen. »Mein Gott, ja. Ach, Sie sind das.« Eine zweite Frau war zu ihr getreten. Auch sie trug einen giftgrünen Hosenanzug mit weißen Nadelstreifen. In einer Hand hielt sie ein volles, frisch gefülltes Champagnerglas. Der Champagner perlte noch. Sie fasste Frau Maibaum um die Hüfte. »Was will er denn?«
    »Morgen die Grabrede halten.«
    »Ach herrje.« Die Freundin schlürfte aus ihrem Champagnerglas und sah mich abschätzig an. Es war dieser ihr-Scheiß-Männer-Blick. Ich hörte Klaviermusik und leises Stimmengemurmel. In der Wohnung war eine Party im Gange. Eine Trauerparty war das nicht.
    »Bringen wir es hinter uns.« Frau Maibaum führte mich in ein kleines Büro. Ich konnte einen Ausschnitt des Salons erkennen. Ich sah mehrere Frauen, die auf einem großen Ledersofa saßen und mich neugierig musterten. Das Licht war gedämpft. Bestimmt war es auch eine Klavierspielerin, die gerade › Lulleby of Birdland ‹ spielte. Die Freundin begleitete Frau Maibaum in das Büro, in dem ein Schreibtisch, ein Aktenschrank und um einen Glastisch gruppiert drei kleine Ledersessel standen. In einer Glasvitrine gab es eine ganze Batterie Alkoholika. Auf der Vitrine waren Gläser. Die Freundin hatte wieder einen Arm auf die Hüfte von Frau Maibaum gelegt.
    »Hopp und weg«, sagte sie. Ich verstand nicht. Mein »Aha« stand für einen Moment allein im Raum.
    »Er versteht nicht«, kicherte die Freundin und prostete mir mit einem Kussmund zu. Sie schien angeschickert. Ich hätte gerne einen Schluck von dem Calvados in der Vitrine gehabt. Frau Maibaum machte keine Anstalten, mir ein Glas anzubieten. Die Situation war beklemmend. Wir standen etwas unentschieden in dem kleinen Raum.
    »Hopp hopp, und weg«, kicherte die Freundin wieder.
    »Weg?«
    »Mein Mann war Professor, Mediziner, zuletzt Unternehmer, er stellte medizinische Geräte her. Eigene Patente. Sehr verdienstvoll.« Ihre Freundin stieß sie mit der Hüfte an. Der Champagner schwappte aus dem fast noch vollen Glas.
    »Schwupp, weg war er. Ohne einen Ton zu sagen. Wir waren alle überrascht.« Das Kichern der Freundin wurde penetrant albern. Sie legte eine Hand auf den prallen Po von Frau Maibaum. »Der gehört jetzt mir!« Sie tätschelte das Gesäß. Frau Maibaum hauchte einen Kuss auf die Wange ihrer Freundin und nahm die Hand von ihrem Po.
    »Die Beerdigung ist morgen früh um zehn auf dem Waldfriedhof. Es kommen ehemalige Kollegen meines Mannes. Ihnen zuliebe wird es etwas offizieller. Hier sind ein paar Notizen über meinen Mann, die ich zusammengestellt habe. Machen Sie es nicht zu lang.«
    Ich nahm die Notizen. »Haben Sie ein Foto Ihres Mannes?« Ich wollte wissen, ob der Gehängte auf der Zeichnung von Martha der tote Gatte der Dame vor mir war. Sie sah jetzt im fahlen Neonlicht des

Weitere Kostenlose Bücher