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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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seiner Mutter der Junge lange genug schlief. Im Schrank, auf der Terrasse oder in ihrem Bett bei ihr. Erinnerungen an meine eigene Mutter überfielen mich. Frau Stadl verfügte über meine Zeit, ohne mich zu fragen.
    Martha und Ludwig saßen immer noch an ihrem Tisch im ›Dollinger‹. Ich sah es durch die großen Fensterscheiben. Ludwig hatte den Kopf auf die Tischplatte gelegt. Er war jetzt nicht mehr ansprechbar. Ich setzte mich auf eine der Bänke vor dem ›Dollinger‹ und blätterte in der Mappe. Sie enthielt ein DIN-A4-Blatt mit der Adresse der Frau Maibaum. Sie wohnte am Ludwig-Kirch-Platz 8, wo auch mein geerbtes Haus stand, direkt gegenüber. Martha hatte auf das Blatt einen Mann mit heraushängender Zunge gezeichnet, mit einem Strick um den Hals. Er hing an einem derben Holzgalgen, auf dem bereits die Raben saßen, um dem Toten als Erstes die Augen auszupicken. Dann Stück für Stück Nase, Ohren, Mund, Wangen. Die verzerrten Züge des Gehängten waren gut erkennbar. Es war ein alter Mann. Er trug eine Anzughose mit Hosenträgern und ein Hemd mit Krawatte. Unter dem Toten stand eine Frau, die mit abgewandtem Kopf Ausschau hielt. Wonach, war nicht erkennbar. Ihr Gesichtsausdruck war lust- und erwartungsvoll. Auch ihre Gesichtszüge waren gut erkennbar. Sie hatte ein breites Froschmaul. Vielleicht waren die Lippen mit Botox vollgepumpt. Sie wirkte vulgär und aufgetakelt. Über den linken Arm hatte die Frau eine Anzugjacke gelegt. Es war die Jacke des Toten. In der Hand, von der Jacke fast verdeckt, hielt sie eine Brieftasche, die mit einem Geldbündel prall gefüllt war. Die Geldscheine hingen aus der Brieftasche, die als Einziges überproportional gezeichnet war. Es war eine sehr böse, sehr präzise Zeichnung. Hielt diese Frau mit dem Froschmaul bereits Ausschau nach dem nächsten Galan mit einer dicken Brieftasche, den sie plündern konnte, nachdem der Verflossene sich erhängt hatte? Oder von ihr erhängt worden war? Die Zeichnung war mit › M ‹ signiert.
    Ein Taxi fuhr vor. Doris hielt die Türe vom ›Dollinger‹ auf. Martha hatte sich Ludwig unter den Arm geklemmt und bugsierte ihn auf das Taxi zu. Sie kamen an mir vorbei. Doris schaute den beiden kopfschüttelnd hinterher, sagte aber nichts. »Martha, Moment mal.« Ich wedelte mit der Mappe. »Was soll das alles?«
    »Ich kann jetzt nicht. Siehst du doch.« Der Taxifahrer hielt die hintere Wagentüre auf. Martha schob Ludwig, der vor sich hinkicherte, auf den Rücksitz und quetschte sich neben ihn. Von mir nahmen sie keine Notiz mehr. Ich war wütend. Ich wollte die Mappe in das Auto werfen. Martha schlug die Türe vor meiner Nase zu. Das Taxi fuhr los. Ich blieb eine Weile stehen und schaute in das Licht der alten Gaslaterne über mir, bis ich mich wieder beruhigt hatte. Ich betrachtete nochmals die Zeichnung. Sie erinnerte mich an Urs Graf, einen Schweizer Söldner, der im
30-jährigen Krieg gekämpft und in vielen meisterhaften Zeichnungen die Kriegsgräuel festgehalten hatte. Er war einer der ersten Kriegsreporter. Auf einer Zeichnung stand eine Hure mit Holzbein unter einem am Galgen aufgeknüpften Söldner, dem schon die Raben den Schädel bepickten. Die Söldner des Urs Graf hatten große, muskulöse Leiber mit einem riesigen Genital und auffallend kleinen Köpfen, auf denen abenteuerliche Hüte mit wallenden Federbüschen prangten. Mit ihren Blicken buhlte die Hure schon um ihr nächstes Opfer, einen genitalen Prachtbolzen mit Eiern dick wie Kanonenkugeln, der sich bereits näherte und dem sie ihr lockendes Gesicht zuwandte. Die Hure hatte den Söldner nicht aufgehängt. Ob das auch für die Frau auf Marthas Bild galt, war ich mir nicht sicher. Es gab keine Hinweise auf den Täter oder die Täterin. Warum hatte Martha diese Zeichnung angefertigt? Sie musste einen Grund haben. Sie hatte, trotz ihrer unverständlichen Anhänglichkeit an Ludwig, einen klaren Verstand. Ich hörte schon wieder die Flöhe husten. Martha machte ständig aus einer Laune heraus Zeichnungen, die sie verschenkte.
    Ich legte die Skizze zurück in die Mappe und machte mich zu Fuß auf den Weg zum Ludwig-Kirch-Platz. Das Haus, in dem Frau Maibaum wohnte, lag tatsächlich gegenüber dem Mietshaus, das ich zusammen mit Barbara Vogelweide geerbt hatte. Es war hell erleuchtet. Aus allen Fenstern des großen vierstöckigen Gebäudes aus der Gründerzeit kam Licht. Die Bude war voll. An der Fassade hingen Transparente, die ich wegen der Dunkelheit nicht lesen konnte. Das

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