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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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hob diesen um ein gutes weiteres Stück. Der Rubin schwebte jetzt fast im Nestchen, ohne Berührung mit irgendwas, wie die kreisenden bunten Urnen hinter ihr, und drohte endgültig, es zu verlassen. Ein knallrotes Bonbon, das man mit den Lippen im Fallen auffangen müsste, zum Weglutschen. Sie war nicht gewillt, Auskünfte zu erteilen, und ganz auf Abwehr eingestellt. Ich schob ihr die Zeichnungen rüber, so behutsam, dass sie vor ihr zum Liegen kamen. Sie nahm sie nicht zur Kenntnis und rümpfte nur angewidert die Nase. Ich hatte ihr einen stinkenden Münsterkäse rübergereicht. Unter den Stinkern war er König. Herrlich aromatisch.
    »Erkennen Sie darauf wirklich niemanden?« Ich hatte mich für sie in Luft aufgelöst. Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu, als müsste sie den unangenehmen Käsegeruch vertreiben. Dabei drehte sie den Kopf, Ekel im Gesicht, leicht weg, als wäre ich die Quelle des Gestanks. Ich schnupperte. Die Luft war klar und frisch wie der junge Morgen draußen vor dem Fenster. Ihre schnippische Art begann mich zu nerven. Ich unternahm einen letzten Versuch. »Ein gewisser Dr. Frank hat mich zu Ihnen geschickt.« Sie blieb cool und ächzte leise vor Widerwillen. Dabei beugte sie ihren Kopf nach hinten. Halt doch einfach das Maul, du Pisser, du nervst außerordentlich, und hau endlich ab, bedeutete diese Geste. Der Rubin leuchtete blutrot unter dem vorgewölbten Kehlkopf. Das Kinn stach spitz in die Luft. Ihr langes, blondes Haar wallte. Sie schüttelte es.
    »Brrrr«, machte sie. Gleich bekam sie noch Pickel auf der Haut, musste sich übergeben vor Ekel, und ich wurde in den nächsten Verbrennungsofen zur sofortigen Einäscherung geschoben, um dann als Trophäe in eine schwebende Urne zu gelangen mit der Aufschrift ›Kotzbrocken ‹ .
    Ich schoss nach vorne, über den Schreibtisch, und riss ihr den Rubin aus dem Nest. Sie schrie laut auf. Jetzt wusste ich es – ein Problem hatte ich gelöst. Der Edelstein wurde durch eine Goldfassung gehalten, die in die Haut fixiert war. Statt des roten Rubins zierte jetzt ein Blutstropfen das Nestchen, der sich rasch vergrößerte. Ich hatte die Goldfassung aus der Haut gerissen. Das tat weh. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit geöffnet. Ihre Nüstern bebten. Damit hatte sie nicht gerechnet. Ein schmales, rotes Rinnsal verlief sich zwischen ihren Brüsten. Es sah durchaus reizvoll aus. Ich stellte mir ihre blutverschmierten Brüste vor. Ich hoffte, mein Zugriff hatte ihre Haltung geändert. Ich sah mich enttäuscht. Sie hatte sich sofort wieder in der Gewalt. Ihr Gesichtsausdruck war beinhart. Sie war eine andere Nummer als dieser Jammerlappen Frank. Das Blut floss unvermindert. Sie ignorierte es. Ich widmete auch ihr eine Rede.
    »Sie müssen nichts sagen. Ich weiß auch so alles. Sie haben die alten Herren eingeäschert und abkassiert. Das Problem ist, Sie sind selbst eine Todeskandidatin. Sie können schon mal einen Ihrer Verbrennungsöfen anwerfen zum eigenen Gebrauch. Es ist nichts auszuschließen. Frau Stadl, die Sie gewiss kennen, hat einen Sohn. Er ist unterwegs als Racheengel. Ich bin sein Vorbote, der schon mal anklopft.«
    »Was wissen Sie denn schon über Todeskandidaten?«, schrie sie wutentbrannt. Ich hatte einen wunden Punkt bei ihr getroffen. Ihre blauen Augen glühten plötzlich übernatürlich intensiv. Sie hatte sich ruckartig nach vorne über die Marmorplatte gebeugt und sich mit beiden Händen aufgestützt. Blutstropfen fielen auf den hellen, rosa-quarzfarbenen Marmor. Sie war eine zum tödlichen Biss entschlossene Speikobra, die mir gleich ihr Gift in die Augen spritzen würde. Ihr Oberkörper schwankte leicht hin und her. Das lange blonde Haar erzitterte im Rhythmus dieser Bewegung. Leichte Wellen bildeten sich, als wehte ein Wind über einen glatten See. Dazu zischte sie leise. Sie pumpte immer wieder Luft in ihre Lunge und zischte. Mit der Zungenspitze feuchtete sie die Lippen an, die von dem ständigen Luftstrom trocken wurden. Ich wartete vergeblich, dass das Zischen aufhören würde. Sie hörte nicht damit auf. Jemand in ihr betätigte einen Blasebalg. Früher betätigten Jungen den Blasebalg für die Orgel in der Kirche, wenn der Organist himmlische Musik zur Erbauung der Gemeinde intonierte. Gleich würde sie aus vollstem Herzen singen. Das Ave Maria von Schubert. Sie sah sehr schön aus. Botticelli hätte sie sofort verewigt. Ein neuer Frühling erblühte im Blumengewand. Blumenkränze im Haar. Weiße Gänseblümchen. Sie

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