Kindswut
Blattgeruch, nach Kringeln auf dem Wasser, auf denen man wegtanzen konnte, wenn die Schwäne ihre langen Hälse in die spiegelblanke Fläche tunkten, nach hohem Gras, um darin zu liegen, das Gesicht dem Himmel zugewandt, nach Wind, nach gleichmäßigem, starkem Wasserrauschen. Ich eilte zum Bahnhof Zoo, ich wollte zum ›Schleusenkrug‹. Die Uhr der Gedächtniskirche zeigte neun Uhr. Beim Gehen schlug das Hologramm gegen meine Oberschenkel. Ich hatte es in die Hosentasche gesteckt. Wer war dieser junge Mann, der einen solchen Schrei in der jungen Frau ausgelöst hatte? Hatte sie wegen ihm geschrien? Etwa wegen Philip?
Der ›Schleusenkrug‹ war kaum besetzt. Es war noch zu früh. Auf der Brücke, von der aus man auf die Schleuse schauen konnte, standen ein paar Touristen. Ein Ausflugsboot wurde geschleust. Die hohen, dunklen Kammern füllten sich mit Wasser. Die Sonne verfing sich im Geäst der Bäume und funkelte. Ich holte mir am Tresen eine Flasche eiskalten Riesling und ein Glas. Ich würde mich betrinken. Jetzt am frühen Morgen. Das war mein fester Entschluss.
Es schwamm keine tote Beerdigungsunternehmerin, von Urnen getragen, mit im Wasser wallenden langen blonden Haaren, die Spree herunter, um sich zu dem Ausflugsdampfer in der Schleusenkammer zu gesellen. Bis jetzt hatte Philip sie verschont. Sonst hätte ich längst ein Zeichen ihrer Hinrichtung oder ihrer Selbsttötung bekommen.
In den Urnen träumten junge Männer ihren Aschetraum. Sie dürften im Alter von Philip gewesen sein. Sie träumten den Traum der Frau, die sie zum Schweben gebracht hatte. Sie hatte kein Geständnis abgelegt wie Vera Kalb oder Klaus Frank. Vielleicht verschaffte ihr dieser besondere Umstand Aufschub. Keine Hinrichtung ohne ein Geständnis, war meine Theorie, in der ich hing wie in zu dichtem Dornengestrüpp. Mit den Sinnen und dem Verstand war all dem nicht beizukommen. Man kennt die Hölle nur vom Hörensagen. Näherte man sich ihr, nahm sie eine ganz natürliche Gestalt an. Eine Bestattungsunternehmerin mit einem Blutstropfen zwischen ihren Brüsten, zu einem Rubin geronnen, hatte mir fast den Kopf verdreht, die Gemäldegalerie eines Arztes beinahe die Sinne vernebelt, ich selbst hatte mich in ein Monster verwandelt und erkannte mich nur mit Mühe wieder. Ich wusste nicht, welche Gestalt Philip hatte. Er trug eine Pitbull-Maske. Vom Alter her konnte er der junge Mann in dem Hologramm sein. Aber er lebte.
Meine Laune stieg von Glas zu Glas an. Nach zwei Flaschen war ich hackevoll. Ich zahlte und spazierte vergnügt Richtung Kantstraße nach Hause. Ich lief an Zoogehegen vorbei, in denen Pfaue ihre Räder schlugen und Ziegen meckerten. Hühner pickten emsig. Das gleichmäßige rasche Auf und Ab ihrer Hälse erinnerte mich an die leise ratternde Nadel einer Nähmaschine. Ihre Schritte dabei waren gravitätisch. Hühner waren extrem zuverlässig, nahrhaft und legten Eier, aus denen wieder Hühner schlüpften. Das tröstete mich ungemein. Als hätte der liebe Gott mir mit dem Zeigefinger auf die Stirn gestippt und die Richtung gewiesen. Ich war in einem schlechten Film gewesen, der in einem Kinosaal spielte, den es gar nicht gab. Ich holte das Hologramm aus meiner Hosentasche und schaute hinein. Der junge Mann war immer noch da. Das war der Filmvorführer, der sich aus einer bösen Zauberwelt in meine Hosentasche verirrt hatte. Es war Beelzebub in der Gestalt eines schönen Jünglings. Ich wollte keinen Hexensabbat mehr. Der Blocksberg, auf dem sich die Hexen mit dem Teufel trafen, war nicht meine Gegend. Es war kein Papierkorb in der Nähe, sonst hätte ich das Hologramm hineingeworfen. Ich steckte es zurück in meine Hosentasche. Ich kam am ›Dollinger‹ vorbei und schaute rüber zum ›Lentz‹. Da saß Maria auf der Bank neben dem Eingang und hielt Ausschau nach einem Opfer, in das sie ihre Hauerchen schlagen konnte. Sie sah mich kommen. Sie sah reichlich zerzaust aus, als hätte sie mal wieder auf der Bank übernachtet. Ihre Miene hellte sich auf. Sie winkte mir zu, aber ich ging weiter. Neben ihr auf der Bank stand eine schwarze Tasche. Sie hatte sonst nie eine Tasche bei sich. Sie trug alles, was sie brauchte, mit sich in den Taschen ihres schwarzen Ledermantels. Vielleicht kannte sie die Dame mit den vielen Urnen. Vielleicht kannte sie auch den fremden Filmvorführer in meiner Hosentasche. Wen kannte sie nicht? Zum Teufel damit. Mir war nach niemandem, nur nach mir.
Kapitel 11
Es läutete Sturm an meiner Türe. Da
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