Kindswut
so imaginierte ich, waren auch Fremde, Unbekannte. Wer kannte sie? Von der Gier der Frau Stadl und ihrer Komplizinnen ausgebeint? Das alles gesehen und miterlebt von einem Jungen? Philip? Es war seine Wirklichkeit, die sich von vielen Wirklichkeiten unterschied, aber sie existierte ganz real. Anfassbar, sehbar, riechbar. Oder stank die Pisse nicht, die aus den Hosenbeinen lief, an den baumelnden Beinen vorbei? Die gestreckten Oberkörper, die gefesselten Hände, die am Galgen, am Kronleuchter aufgeknüpften Körper, auch sie waren Realität. Altersheime, Vorhöfe ins Ende. Es wirbelte in meinem Schädel, ich hatte Mühe, das eine vom anderen zu trennen, das eine war nicht das andere. Philip gehörte nicht zu den Alten. Oder war alles durch unterirdische Kanäle miteinander verbunden, die ich nur nicht entdeckte? Alles war eins. Das eine vom anderen zu trennen war eine gedankliche Hilfskonstruktion, um das Unfassbare – vergeblich! – zu fassen. Nichts war trennbar.
Was hatten die Vertreter der Elite Berlins, vor denen Fricke seinen Herzkasper bekam, mit den vor mir tanzenden Urnen zu tun? Und was die Staatssekretärin mit dem Beutekünstler Dr. Frank? Auf den ersten Blick nichts. Genauso wenig wie die schöne Lady vor mir auf den ersten Blick etwas mit Fricke oder der Stadl oder gar mit deren Sohn zu tun hatte. Was hatte diese knackige Lady vor mir ausgefressen? Wen hatte sie in diesen schwebenden Urnen abgelagert? Grundlos schwebten sie da nicht. Eine solche Schwebewand zu installieren, bedeutete erheblichen Aufwand. Dahinter steckten eine Absicht und ein Wille. Dass ich einen Bekannten von mir in einer der Urnen antraf, erwartete ich nicht. Am ehesten noch Maria, den Vampir vom Stutti. Sie liebte ungewöhnliche Orte. Sie stand in der Urne am Tresen und beschwerte sich über das schlecht gezapfte Bier, fantasierte ich. Neugierig machte mich auch der Umstand, dass in der Mitte jeder Urne ein schwach leuchtender Punkt war. Ich assoziierte winzige Gucklöcher in das Innere der Urne, wagte es aber im Moment nicht, diese Vorstellung zu Ende zu spinnen, weil es schon zu viele Vorstellungen gab, die in meinem Schädel heillos die Gedanken verschoben hatten. Ich verbot mir ein Nachdenken über die Gucklöcher, durch die man in das Innere der Urnen sehen konnte. Um was da zu sehen? Genau das auszudenken untersagte ich mir strikt. Konnte es aber nicht sein, dass ich des Toten, längst zu Asche geworden, ansichtig wurde, wenn ich durch das Guckloch in die Urne lugte? Noch im Leben stehend? Mit dem Rücken zur Wand? Vielleicht sah ich auch ein hell strahlendes Nichts. Ein gleißendes Weiß. Den Anfang und das Ende von allem. Ein Nirwana. Die Verwirrung meiner Gedanken nahm zu. In meinem Schädel sausten Dreschflegel, mein Hirn wurde zu Heu geklopft. Ich war übermüdet. Meine Augäpfel fühlten sich an, als seien sie in Schmirgelpapier eingelagert, wenn ich sie bewegte.
Mein Besuch bei ihr zu dieser frühen Stunde, es war gerade sechs Uhr vorbei, schien sie überhaupt nicht zu verwundern. Sie war topfit und zeigte nicht das geringste Anzeichen von Müdigkeit.
»Tote haben immer Eintritt?« Sie verstand nicht, lächelte mich aber unverdrossen fröhlich an. »Wer hat schon so früh geöffnet wie Sie?«
»Ach so, ja, um sieben gibt es eine Einsargung.«
»Wer wird denn eingesargt?« Das Lächeln blieb standhaft, nur die Stirn runzelte sich leicht. Die blauen Augen taxierten mich. »Welches Anliegen haben Sie, Herr…?«
»Neuhaus.«
»Neuhaus?« Was sollte ich drum herumschwadronieren? Ich holte die Unterlagen aus der Innentasche meiner Jacke und packte die Fotos und die Zeichnungen dazu. Als Erstes präsentierte ich ihr die Fotos mit Fricke und der Staatssekretärin. Ich schnipste sie mit dem Zeigefinger über die Tischplatte zu ihr hin. Die Fotos flutschten nur so über den glatten Marmor und segelten über den Rand des Tisches hinaus. Ich hatte zu heftig geschnipst. Sie musste sich bücken, um die Fotos aufzuheben. Für einen Moment verschwand sie hinter dem Marmorungetüm. Als sie wieder auftauchte, saß der kalte Engel vor mir. Sie hatte sich die Fotos beim Hochkommen angeschaut und sie jetzt vor sich auf den Tisch gelegt. Sie schnipste die Fotos zurück. Eleganter als ich. Sie landeten genau vor mir. »Ja?«
»Kennen Sie die Herrschaften?« Sie schlug die Beine übereinander. Ich sah nur eine Kniespitze. Der Rest lagerte unter Marmor. Dazu verschränkte sie die Arme unter ihrem schönen Busen. Die Verschränkung
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