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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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der Größe eines kleinen Fingernagels. Es war ein Rubin von raffiniertem Schliff. Er funkelte und glitzerte und musste ein Vermögen gekostet haben. Ich überlegte, wie sie den Rubin an dieser ansehnlichen Stelle befestigt haben konnte, ohne dass er aus dem Nestchen kullerte. Und was geschah, wenn ich meine lüsternen Lippen in dieses Nestchen senkte? Wie fühlte sich der Rubin an auf der weichen, straffen Haut? Konnte ich ihn mit den Lippen wegzirzen? Ich kam zu keinem Ergebnis. Ich war leicht frustriert. Erst die mit oder ohne BH gehobenen Wölbungen der Brüste, dann die Tischplatte auf dem superschlanken Sockel, der unter der marmornen Last zu kapitulieren drohte, jetzt der Rubin, der keine Auskunft gab. Ich war übermüdet. Es war nicht einmal eine Ausrede.
    Sie lächelte in einem fort. In ihrem Job musste sie lächeln. Meine Särge machen jeden Toten glücklich. Sie war eine professionelle Zwangslächlerin, die gute Aussichten hatte, schwer depressiv zu werden. Kellner, Bankangestellte, Heiratsschwindler, Stewardessen, Ärzte und Immobilienhändler gehörten ebenfalls zu dieser gefährdeten Klientel. Depressiv wirkte sie nicht. Eher ich. Ich würde bald in ein schwarzes Loch voller Verzweiflung fallen, wenn sie noch lange vor mir saß.
    Der Clou ihres Büros aber waren die an der Wand schwebenden Urnen hinter ihr. Ich zählte sie ab. Es waren exakt 22 Urnen, die ohne jede Halterung vor der schwarzen Wand in der Luft schwebend einander ganz langsam umtanzten. Jede einzelne Urne wurde von einem Laserstrahl bestrahlt. Die Urnen hatten es in sich. Sie waren pinkfarben, mit Zebrafell überzogen, zwei Silberpenisse schwebten einträchtig Seite an Seite, ein simples Einweckglas hielt sich in der Schwebe, ein bayerischer Bierseidel mit Silberdeckel tat sich zur ewigen Ruhe ebenfalls gütlich, buntfarbige Kugeln brillierten wie Seifenblasen, andere Urnen hatten die klassische Urnenform, waren aus Metall, Bronze, Holz, Porzellan, einfarbig oder bunt bemalt mit den unterschiedlichsten Motiven. Blumen, Schmetterlinge, Käfer, abstrakte Muster. Es war ein buntes, um sich kreisendes Fest von Farben und Formen. Ich sah es nicht sofort. Meine Augen mussten es erst erfassen: Eine einzige Urne bewegte sich nicht. Sie wurde umtanzt. Sie wurde von den kreisenden Urnen verdeckt, als sollte sie von ihnen geschützt werden. Diese Urne war blutrot. Sie war der ruhende Mittelpunkt in diesem Schweben und Kreisen. Es handelte sich um ein Gesamtkunstwerk mit einer großen, geradezu lasziven Anziehungskraft. Wie war das möglich, dass die Urnen schwebten? Ich vermutete eine Art magnetisch bedingten Schwebezustand. Die Asche des Toten zwischen den Magnetpolen plus und minus. Die ganze Welt war zwischen plus und minus eingespannt, Tag und Nacht. Warum nicht auch 23 Urnen? Oder zwei Millionen? Oder Milliarden? Ich brach meine Betrachtungen ab. Oder ich verlor mich im Uferlosen. Die Urnen waren die zivile Entsprechung einer militärischen Tradition, die des unbekannten Soldaten, mit dem Unterschied, dass der zivile Tote, anders als der unbekannte Soldat, nicht unbekannt war, sondern tränenreich betrauert wurde. Dafür ruhte der unbekannte Soldat, freigegeben zur öffentlichen Besichtigung und Erinnerung an große Schlachten, unter einem Triumphbogen. Niemand wusste, wer er war. Niemand konnte daher um ihn trauern. Wie auch sollte man um jemanden trauern, den niemand kannte? Man trauerte nicht um das Fremde, Unbekannte. Auch nicht im großen Stil. Noch an keinem Massengrab brach heillose Trauer aus. Hier ein verrenktes Bein, da ein verlorener Kopf, ein Arm, ein Fuß, ein verdorrtes Geschlecht, aufgerissene Münder, dazwischen Dreck. Fremde in Verwesung. Zersetzung. Das stößt ab, ist nicht betrauerbar. Auf dem Grab des unbekannten Soldaten brannte das ewige kalte Feuer. Kein Herz wärmte die Gebeine. In ein Massengrab schüttete man Benzin und zündete es an. Es stank nach verbranntem Fett. Oder ein Bulldozer kippte das Massengrab zu. Oder man machte es mit Schippen. Ganz einfach. Irgendwann wuchs Gras darüber. Birken wuchsen gerne über Massengräbern. Ginster auch. Löwenzahn auch. Besonders im Ginster hingen Zecken. Die waren gefährlich.
    Vor mir schwebten Urnen. Das war auch fast schon ein Massengrab. Die Tattergreise, die an Galgen und Kronleuchter hingen und sonst wo noch baumelten, bis die Knochen krachten, bis der zahnlose Mund mit der Zunge fletschte, nachdem das Gebiss in der Brandung des Schmerzes aus dem Mund geflutscht war,

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