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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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hatte jemand den Dauerdaumen auf der Klingel. Es war noch keine zehn Uhr abends. Ich suchte nach meiner Hose und fand sie nicht. Überall dichter Rauch. Ich hatte die Würste in der Pfanne vergessen und war eingeschlafen. Ich tastete mich zum Lichtschalter und knipste das Licht an. Die Klingel tobte immer noch. Ich tapste durch den dichten Qualm zur Türe. Jetzt war ich doch in der Hölle angelangt und noch nicht wirklich nüchtern. Ich fand die Wohnungstüre, immer noch in Unterhose. Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob ich überhaupt eine anhatte. Zu spät. Ich hatte die Türe bereits geöffnet. Vor mir stand die von obendrüber. Sie war alleinerziehend und mit dem Mutterblick begabt: › Ich setze dir nie eine Grenze, du Scheusal, Kind, hau doch wieder ab, wie du gekommen bist! ‹
    Ich hatte keine Unterhose an. Nur ein kurzärmeliges Unterhemd, das knapp über den Bauchnabel reichte. Alles darunter lag bloß. Der Qualm strömte an mir vorbei in den Hausflur und verhüllte die Nachbarin. Und mich, hoffte ich.
    »Würste in der Pfanne vergessen!« Ich hob mit einem Bedauern die Schultern. Das kurzärmelige Unterhemd schob sich nach oben und gab jetzt auch den Bauchnabel frei. Herrje! Sie hustete, weil der Qualm die Stimmbänder reizte, und ich hustete auch. Sie bekam vor lauter Husten und Rauch keinen Ton heraus. Ihre Augen tränten. Viel von mir erhaschen konnte sie nicht. Ich war dem Qualm dankbar. Sie stieg wieder die Treppen hoch in ihre Wohnung und knallte laut mit der Türe. Sie war wütend. Ich ließ die Türe offen stehen, damit der Qualm abziehen konnte, und öffnete alle Fenster. Meine Hose fand ich im Badezimmer. Ich schlüpfte hinein. Ich hob in der Küche den Deckel von der Pfanne, eine dichte Qualmwolke sprang mich an. Der schwarz-graue, beißende Qualm über der Pfanne lichtete sich, und ich schaute ins Inferno. Die Würste in der Pfanne, ein gutes Dutzend, waren völlig verkohlt und merkwürdig verschrumpelt. Als hätten sie sich umklammert in der Höllenglut mit Ärmchen und Beinchen, die jetzt nur noch Stümpfchen waren. Es waren keine verkohlten Tierchen, die sich im Todeskampf, Schutz suchend, aneinander festgekrallt hatten, sondern Andouillette-Würste aus Frankreich mit einer sehr groben Füllung. Dass ich ein Dutzend Würste in die Pfanne geworfen hatte, konnte ich nur meiner Betrunkenheit zuschreiben. Denn nach sechs Andouillettes war jeder Vielfraß mehr als satt. Die Würste stanken entsetzlich.
    »Was ist denn hier los?«, rief es von der Treppe her. Es war Maria, die sich aus dem Rauch schälte. Sie stieg wie ein Geist die Treppe herauf, vom immer noch dichten Rauch umwabert, der jetzt das ganze Treppenhaus ausgefüllt hatte. Die Deckenbirne leuchtete wie der fahle Mond. Es fehlte nur noch der Schrei eines Käuzchens. Maria betrat die Wohnung, und sie hatte die große Tasche bei sich, die neben ihr auf der Bank stand, als ich am frühen Mittag betrunken an ihr vorbeigelaufen war und sie mir zugewunken hatte. Sie drückte mir die Tasche in die Hand. »Für dich!« Sie schaute sich um und in die Pfanne. »Sieht ja allerliebst aus. Hast du mal ein Bier?«
    »Im Kühlschrank.« Ich stellte die Tasche auf den Küchentisch. Der Rauch verflüchtigte sich langsam. Maria hatte ein Bier gefunden, setzte den Flaschenhals auf die Tischkante und schlug mit einem trockenen Schlag den Blechverschluss ab. Der Tisch hatte jetzt einen Kratzer. Es war ein Biedermeierküchentisch, den sie gerade verunstaltet hatte. Sie lehnte sich in ihrem schwarzen Mantel gegen die Tischkante und trank einen Schluck aus der Flasche.
    »Bist du nicht neugierig?« Ich war sehr neugierig und öffnete die schwarze Tasche. Sie war aus billigem Plastik und der Reißverschluss klemmte. Meine düstere Ahnung bestätigte sich. Maria war der Todesengel, der dem Todesboten Fritz Neuhaus in einer billigen, schwarzen Plastiktasche eine Schultüte gebracht hatte. Sie war dunkelblau glasiert und mit vielen goldenen Sternchen übersät. Die Spitze der Schultüte, aus Stahl gefertigt und geformt wie die eines Degens, ragte mir drohend entgegen. Ich hob die Tüte heraus, hielt sie mit angewinkeltem Arm fest und schaute in der Tasche nach, ob das alles war. Ich fand noch einen Ständer, in den ich die Schultüte mit der Spitze abstellen konnte. Fein wie Papier gefälteltes Porzellan verschloss die Schultüte. Eine blutrote Porzellanschleife hielt das Papier zusammen. Einer der Sterne war das Guckloch. Ich holte tief Luft und schaute

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