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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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zischte und bewegte im gleichen Takt ihren Oberkörper, die Hände flach auf die Marmorplatte gepresst. Starke, unverrückbare Fundamente. Die Sache mit den Todeskandidaten schien ihr sehr nahe zu gehen. Eine Herzensangelegenheit, von der ich nichts wusste. Mir war klar, das Zischen würde nicht aufhören. Es war eine Art widerständiger Selbsthypnose, ein Schutzschild gegen die Unbill der bösen Welt, der nur mit entrücktem Zischen und schwebenden Urnen, die nirgends aneckten, beizukommen war. Der Tod im Schwebezustand. Meine Mission hier war beendet. Sollte sie zischen, bis ihr die Luft ausging. Das konnte noch lange dauern. Ich sammelte die Fotos und die Zeichnungen ein. Sie schaute jetzt starr nach vorne. Sie war weit weg. Auf einem anderen Kontinent. Das Blut im Nestchen begann zu trocknen. Ich hatte den Rubin auf die Marmorplatte gelegt. Ich überlegte. Ich konnte ihn einstecken. Sie würde es nicht einmal bemerken, in dem Zustand, in dem sie war. Er war ein paar Mille wert. Er funkelte mich verführerisch an. Ich ließ ihn zunächst da, wo er war. Auf der Marmorplatte hatte er seinen Platz gefunden. Stein kam zu Stein. Dann hatte ich eine Eingebung. Nimm ihn, sagte sie. Ich tat es und steckte den Rubin in die Hosentasche.
    Bevor ich ging, machte ich es. Ich riskierte einen Blick durch die Gucklöcher ins Innere der Urnen. Ich drückte ein Auge gegen das Guckloch einer der Urnen. Der Druck des begierigen Auges auf die Urne war zu groß. Schwebend wich sie federleicht aus. Ich hielt die Urne mit beiden Händen fest und probierte es erneut. Ich war überrascht und sehr erstaunt. Ich schaute in ein dreidimensionales Hologramm. Ich sah nicht das, was zu sehen ich erwartet hatte. Keinen Greis. Ich sah einen bildschönen jungen Mann um die 20 mit hellblonden Rasta-Haaren. Er lächelte voller Liebreiz. Das war das passende Wort. In seiner Hand hielt er einen breiten Ledergurt, an dem etwas hing. Der Gurt war gestrafft. Was daran hing, konnte ich nicht deutlich sehen. Dann erkannte ich es. Es war ein Akkordeon. Ich ließ die Urne vor Verblüffung los. Sie fiel zu Boden und zerschellte. Asche stäubte. Ich hatte den Schwebemechanismus gestört wie Grabräuber die Ruhe der Toten. Ich erschrak zutiefst. Das war nicht meine Absicht gewesen. Ich schaute trotzdem in die nächste Urne. Wieder sah ich einen jungen, sehr schönen Mann, der mich anlächelte. Diesmal ließ ich die Urne nicht los. Ich stellte sie auf den Boden. Das Guckloch der zerschellten Urne war samt Hologramm herausgebrochen. Ich schaute hinein, um zu prüfen, ob es noch intakt war. Es war noch intakt. An dem Gurt hing eindeutig ein Akkordeon. Ich irrte mich nicht. In dem Hologramm, das konnte nur Philip sein, der so wunderbar auf dem Instrument spielte. Ich war einigermaßen verwirrt, ratlos. Ich scheute mich nicht, auch das Hologramm einzustecken. Es gesellte sich zum Rubin. Wer weiß, wozu ich es noch gebrauchen konnte. Die Scherben der zerschellten Urne sahen in der Asche aus wie eine kalte Kraterlandschaft. Mondgestein.
    Bevor ich ihr Büro verließ, musterte ich die Frau Wildwasser noch kurz. Ich hatte Scheu, sie nochmals anzusprechen. Ich hatte etwas in ihr verletzt, wovon ich nicht wusste, was es war. Es hatte nichts mit alten Männern zu tun. Sie war in irgendetwas verstrickt. Ich konnte aber nicht herausfinden, worin. Sie zischte und ihr Oberkörper bewegte sich. Das lange Haar erzitterte wellenförmig. Lang anhaltende Brandung, weit her. Das war das Letzte, was ich von ihr sah. Ich sah sie nie mehr wieder. Als ich an den Särgen vorbei durch den Ausstellungsraum zum Ausgang ging, hörte ich ihren markerschütternden Schrei. Als hätte ich vor ihren Augen ihren Liebhaber getötet. Einen solchen Schrei hatte ich erst einmal gehört. Es war der Todesschrei eines Rennpferdes, das beim Training nicht über die Hürde kam und sich die Vorderbeine gebrochen hatte. Der Besitzer war ein Sadist. Er erschoss das Pferd mit einer Schrotflinte. Er musste mehrmals schießen, ehe es tot war. Es war Schrot für Hasen. Das Pferd schrie ganz entsetzlich. Ich hasste diesen Mann und hätte ihm gerne die Flinte entrissen. Ich hätte, ohne zu zögern, auf ihn angelegt und geschossen. Da war ich mir ganz sicher. Ich war zu klein und zu schwach. Aber ich hätte es getan. Ganz bestimmt. Jetzt war ich nicht mehr klein und schwach. Dafür etwas orientierungslos.
    Ich hatte ein dringendes Bedürfnis nach Reinigung, nach flimmrigem Licht in grünem Laub, nach feuchtem

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