Kindswut
woher dieser merkwürdige Muttermythos gekommen war. Alle Mütter seien mit Liebe begabte Wesen. Ich kannte es ganz anders.
Der Kaffee reichte für zwei Tassen. Ich nahm eine und klopfte sachte an die Türe, hinter der Maria schlief. Ich musste mehrmals klopfen. Es grummelte. Ich öffnete die Türe einen Spalt und reichte den Kaffee hinein. Ich wusste nicht, wie schamhaft Maria war und wie sie meine Blicke, noch im Bett liegend, womöglich nackt oder nur halb bekleidet, ertrug. Ich war mal wieder zu nett.
»Komm rein!« Sie riss die Türe auf. Sie hatte in ihrem langen, schwarzen Ledermantel geschlafen. Vampire sind nun mal so. Ich hätte die Tasse statt mit Kaffee mit leckerem, dampfenden Blut füllen sollen. Mein Kaffee kam bei ihr an. »Schmeckt gut!« Sie schüttelte mehrmals ihre langen, schwarzen Haare und fuhr mit den gespreizten Fingern durch, bis die Haare glatt waren. Dabei klimperten ihre zahlreichen Armreife und Ringe. »Von hier aus können wir bis ins Westend laufen.« Sie nahm einen letzten Schluck Kaffee, ging in die Küche, spülte die Tasse aus und trocknete sie auch noch ab. »So!«
Ich klemmte mir die Urne mit der Asche der Bestattungsdame unter den Arm. Wir verließen das Haus. Im ›Dollinger‹ nahmen wir noch einen Espresso. Doris guckte auf die Urne, die ich unter den Arm geklemmt hielt.
»So eine Schultüte hab’ ick ja noch nie jesehen! Is was drin?«
»Asche!«, antwortete ich. Ich zahlte. Wir gingen. Maria und ich waren schon ein seltsames Paar. Doris verkniff sich jede Bemerkung.
Wir marschierten die Schlossstraße runter auf das Schloss Charlottenburg zu. Ich dachte an die Königin Sophie Charlotte. Sie war ein schönes Weib und liebte die Oper. Sie hatte sich ein kleines Schloss bauen lassen und ein freistehendes kleines Opernhaus daneben. Das alles hieß Sophie Charlottes Musenhof und wurde 1699 eingeweiht. Das heutige Schloss wurde erst später, nach ihrem frühen Tod gebaut. Sie starb mit 37 Jahren am ersten Februar 1705. Das alles konnte Maria nicht beeindrucken. Sie hatte ihre Hände in die Manteltaschen gesteckt und brauste mit raumgreifenden Schritten, ich konnte ihr kaum folgen, am Schloss vorbei.
»Müssen wir zu einer bestimmten Uhrzeit da sein? Oder warum rennst du so?«
»Um acht ist Visite!« Sie schaute mich an, als wäre ich schwachsinnig. »Dann sind sie alle da!«
Es war noch ein ganzes Stück zu laufen bis ins Westend-Krankenhaus. Ich war völlig verschwitzt, als wir ankamen. Maria war staubtrocken. Ich sehnte mich nach meinem Bett. Ich hatte Durst. Wo gab es eine Kantine? Ich musste außerdem auf die Toilette. Maria stürmte in ein Gebäude. In die Abteilung ›Kinder- und Jugendpsychiatrie‹. Es roch nach Krankenhaus. Nirgends eine Toilette in Sicht. Aus einem Zimmer kam die Visite. Ein kleiner Mann mit Halbglatze im weißen Ärztekittel eilte stramm vorweg. Er war der Chef, das sah man. Nur ein Chef läuft so. Leicht vornübergebeugt, als liefe er gegen einen starken Sturm an. Aber nichts konnte ihn aufhalten. Auch Maria nicht, auf die er zugerannt kam, mit dem ganzen Ärztetross im Schlepptau, einem Rammbock gleich.
»Frau Kollegin«, rief er, ohne sein Tempo zu drosseln, als er Maria sah. »Folgen Sie mir!« Wir schlossen uns dem Gefolge an. »Kommen Sie doch nach vorn, an meine Seite!«, rief der Chef. Maria und ich kämpften uns durch die Assistenz-, Ober- und Stationsärzte an die Spitze. Dabei hielt ich immer dringender Ausschau nach einer Toilette. Der ganze Tross lief, in wehenden Ärztekitteln, im Gleichschritt im Ein-Achtel-Takt. Das sah wie aufgezogen aus. Weiß bekittelte Ärzte aus Blech mit einem Federwerk in ihrem Innern, das sie auf Gleichschritt hielt. Es war gar nicht so einfach, in den Ein-Achtel-Takt einzufallen. Alle paar Meter geriet ich aus dem Takt und machte einen kleinen Zwischenhüpfer, um mich dem Kurzschritttempo wieder anzupassen. Das animierte den Urinfluss ungemein. Eine ausgesprochen niedliche Krankenschwester aus dem Chefarztgefolge schaute neugierig auf die Urne, die ich mit beiden Händen vor meinem Bauch hielt, als bemerkte sie meine Drangsal. Die Urne war kein Nachtgeschirr, mein Gott!
»Machen Sie die Augen zu und einfach mitzählen!« Sie kicherte. Sie hatte auf meine sich verheddernden Beine geschaut. Endlich! Eine Toilette! Ich drückte Maria, die ohne jeden Zwischenhüpfer ausgekommen war, die Urne in die Hand und scherte aus, um mir die dringend benötigte Erleichterung zu verschaffen. Als ich zurückkam,
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