Kindswut
lange zu leben hatten. Sie fieberte voller Ungeduld ihrem Ende entgegen. Erst der Tod war der Höhepunkt der Liebeserfüllung, die Erlösung aus ihrer Liebesqual. Sie konnte ausrasten, wenn der Tod zu lange auf sich warten ließ. Sie war stets auf der Suche nach neuen Liebeskandidaten. Sie durchstreifte Sanatorien, Krankenhäuser, Reha-Kliniken. Sie war krank.«
»Hatte sie in ihrer Ungeduld dem Tod nachgeholfen?«
Sie schaute mich an, weit weg. »Sie hat die Therapie bei mir abgebrochen, als ich den Punkt ansprach.«
»Hältst du es für möglich?«
»Alles ist möglich.«
»Wann hat sie die Therapie abgebrochen?«
»Vor ein paar Monaten. Sie kam einfach nicht mehr.«
»Sie äscherte junge Männer ein. Aber warum auch alte? Gehörten die auch zu ihrem Repertoire?«
»Das war Spurenbeseitigung für die Stadl. An den jungen Kerlen verdiente sie nichts.« Das klang plausibel, erklärte aber immer noch nicht die Ähnlichkeit des Jungen in der Urne mit Philip. »Wie kommt Philip in die Urne, wenn er es nicht ist?«
»Ich könnte Bein und Stein schwören, er ist es!«
»Du hast im ›Lentz ‹ gesagt, du seist ihm zufällig in einer Klinik begegnet. In welcher Klinik war das?«
»Im Westend.«
»Dann müssen wir da hin.«
»Aber erst morgen früh.«
»Kennst du noch andere Kliniken, an denen psychisch auffällige Kinder behandelt werden?«
Sie überlegte. »Frag die Vogelweide. Die kennt sich da besser aus. Die hat doch Philip behandelt.« Da hatte sie recht. Aber ich wollte Barbara aus dem Spiel lassen. Etwas lag in der Luft. Eine heftige Sturzgeburt aus heiterem Himmel drohte. Splitternder Aufschlag, die Splitter zerstoben in alle Richtungen. Wild schwingende Kompassnadel, außer Rand und Band, Knoten in den magnetischen Strömen, die an mir zerrten, so fühlte ich mich. Eine entsetzliche Unruhe hatte sich meiner bemächtigt. In diesem unsicheren Magnetfeld hatte Barbara nichts zu suchen. Die Spitze der irre zuckenden Kompassnadel würde ihr nur einen Kinnhaken verpassen. Mir bald Leber, Herz, Hirn, die Eingeweide zerreißen. Es war ein einziges Rasen. Auf was zu? Die Rennräder der 6-Tage-Rennfahrer hatten keine Bremsen, fiel mir ein. Über den Lenker gebeugt, konnten sie mit dem Gesicht voraus ungebremst gegen die Betonwand klatschen.
»Er hat einen Zwillingsbruder!«
Ich schaute Maria erstaunt an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Eine andere Lösung gibt es nicht. Der eine Philip läuft frei herum, der andere ist in der Urne. Nur das macht Sinn.«
»Ich wäre ja bereits froh, wenn es ihn einmal gäbe. Jetzt gleich zweimal?«
Sie schnaubte. Das war ein gutes Zeichen. Sie war wieder die Alte. Arrogant und überheblich wie immer.
»Wenn der eine zu Asche geworden ist, der andere nicht, ist das die einzige Lösung. Es sind Zwillinge. Alles andere wäre Zauberei. Glaubst du an Zauberei?«
»Kommt drauf an.«
»Du spinnst ja!« Sie machte eine wegwerfende Handbewegung. Sie konnte sehr nüchtern sein.
»Wer hat dir die Urne eigentlich gegeben?«
»Ein Taxi hielt vor dem ›Lentz ‹ . Der Taxifahrer stieg aus und stellte die Tasche neben mich auf die Bank. Im Taxi saß noch ein Fahrgast. Ich konnte nicht erkennen, wer es war. Der Taxifahrer entfernte sich sehr schnell wieder. Ich konnte ihn also nicht fragen.«
»Würdest du ihn wiedererkennen?«
»Nein. Es war zu dunkel. Es ging ganz schnell. Ich hatte keine Zeit, ihn mir genauer anzusehen.« Maria ging an den Kühlschrank, um sich ein neues Bier zu holen. Es war keines mehr da. »Fritz, was willst du jetzt machen?«
»Ins Westend fahren. Nach Philip fragen.«
»Ich komme mit.«
»Wieso das denn?«
»Die kennen mich. Dann sind sie aufgeschlossener.«
Ich schaute auf die Uhr. »Und was machen wir bis dahin? Es ist noch viel zu früh.«
»Du erzählst mir alles. Vielleicht fällt mir ja dazu etwas ein.« Ich erzählte ihr, was sich alles seit unserem Treffen im ›Lentz‹ ereignet hatte. Von den Anschlägen, von Frickes Herzinfarkt, vom Selbstmord von Vera Kalb, der Staatssekretärin, von Dr. Frank, von den Listen und Unterlagen, von Philip und seinen Anrufen. Sie hörte zu, als hörte sie solche Geschichten jeden Tag. Mit diesem leicht blasierten Ausdruck im Gesicht, der ihre eigene Unsicherheit kaschierte. Sie war selbst eine Urne, in die sie unablässig Krankengeschichten, Klatsch, Unrat, Banalitäten und Plattitüden jeglicher Art versenkte. Sie war ein Messie. Sie sammelte, um nicht selbst eingesammelt zu werden. Zu meinem Bericht
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