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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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und schnipste mit dem Daumen über den Zeigefinger, als wollte er ein lästiges Insekt von der Fingerkuppe entfernen. Das Insekt war ich, eine Assel, die im Dunkeln unter feuchten Steinen hauste.
    Maria beendete abrupt das Getrommele. Es war eine Wohltat. Sie beugte sich vor zu dem Arzt.
    »Herr Professor, alles, was Herr Neuhaus sagt, stimmt. Der Junge ist in großer Gefahr. Ich habe ihn hier auf Ihrer Station gesehen. Sie kennen mich. Ich bin keine Traumtänzerin.« Sie klang überraschend seriös. Als hätte sie noch nie einen Rausch auf der Bank neben dem ›Lentz‹ ausgeschlafen. Sie war ein Schatz, der mir aus der Klemme helfen wollte. Der Professor besann sich. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die Spitzen der lackierten Fingernägel der Zeigefinger auf seine vor Unmut leicht gekräuselten Lippen, als wollte er sie glätten. Er beugte sich abrupt vor.
    »Ein Junge war hier. Ein Krüppel. Bewegungsunfähig. Er lag in einem Spezialrollstuhl. Er musste gefüttert werden. Er konnte nicht sprechen. Er ahmte Tierlaute nach. Einige wenige. Er hatte unglaublich wache Augen. Als verstünde er alles. Eingesperrt in seinen Körper ohne Ausgang für seine Empfindungen. Er litt, zusätzlich zu seiner schweren körperlichen und geistigen Behinderung, an einer seltenen Immunschwäche. Seine wenigen Muskeln wurden immer weniger. Er hatte nicht mehr lange zu leben. Er war nur wenige Tage hier. Vor etwa zwei Wochen wurde er abgeholt von seiner Mutter, einer Frau Stadl, und der jungen Dame, die jetzt in dieser Urne ruht. Sie wollten den Jungen zum Sterben in das Stift ›Sonnenschein‹ bringen. Das ist ein Sterbehospiz für todkranke Kinder. Dieser behinderte Junge hatte große Ähnlichkeit mit einem anderen Jungen, der auch hier war, begleitet von einer gewissen Frau Körner. Vielleicht ist das Ihr Philip gewesen. Und jetzt rufe ich die Kommissarin an.«
    Seine Auskünfte genügten mir. Ich schnappte mir die Urne und angelte das Hologramm von seinem Schreibtisch.
    »Maria, du bleibst hier und erzählst der Kommissarin, was letzte Nacht so alles vorgefallen ist. Herr Professor, ich danke Ihnen.« Ich wollte aus dem Zimmer stürzen, besann mich aber noch. »Maria, hier, die Unterlagen. Gib sie der Kommissarin.«
    »Willst du dich verdrücken?«
    »Ich will Philip finden.« Ich fühlte mich wie ein alter andalusischer Esel, der sein Leben lang im Kreis gelaufen war, um die Olivenpresse in Gang zu halten, der jetzt aber, nachdem das Geschirr, das ihn an die Mühle fesselte, ganz unerwartet gebrochen war, immerzu geradeaus lief, immer nur geradeaus, als hauste, ganz weit da hinten, hinter dem Horizont, das große Eselsglück, von dem er von Geburt an immer nur geträumt hatte. Seine Hufe hatten sich in dem ewigen Trott um den einen einzigen unverrückbaren Mittelpunkt tief in den Lehmboden eingegraben, bis zu den Eselsknien, Runde um Runde. Und die Deichsel, die ihn mit den Zahnrädern des Mahlwerks verbunden hatte, zeigte jetzt, einer zerbrochenen Uhrnadel auf dem Eselszifferblatt gleich, keine Zeit mehr an, da sie nicht mehr vom Esel angetrieben wurde, der den Scheuklappen endlich entfliehen wollte. Sollten andere ihr struppiges Fell zu Markte tragen.
    Alles hinter mir lassen. Die Unterlagen, die Kommissarin, Barbara. Erinnerungen auslöschen, dem Leben ein Schnippchen schlagen, die lange Nase machen, ätsch bätsch. Ankommen, am Horizont, und fallen, schnurgerade, Richtung Senkblei. Aufprall wo auch immer. Mit oder ohne Landepunkt. Nur weg.
    Ich landete im ›Haus Sonnenschein‹ in Reinickendorf. Es war ein Hospiz für todkranke Kinder, denen nur noch wenige Wochen, Tage, Stunden blieben. Ich tauchte auf mit der Urne unter dem Arm. Sie stiftete Verwirrung. »Mein Herr, Sie sind am falschen Ort«, sagte der gute Geist des Hauses, Frau Jodler. »Wir sind kein Friedhof.«
    »Nein, nein, ich bin hier ganz richtig!«, widersprach ich. Sie führte mich unaufgefordert durch das Haus.
    »Die Eltern sterbender Kinder sind ja oft viel hilfloser als diese selbst. Die Kinder haben keine Angst vor dem Tod. Zumindest bis zu einem bestimmten Alter nicht. › Im Himmel kommt ihr mich doch besuchen? ‹ , fragen sie.« Es gab einen Raum, der war der Himmel. Er war bunt und schwebend, ausgestaltet mit Tüchern und Bändern und Mobiles der unterschiedlichsten Art. »Hier ist der Abschied.«
    Es gab ein Traumzimmer. Figuren, Masken, abstrakte und wolkenartige Gebilde, Lichter und Lampions regten zum Träumen an. Es war eine

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