Kindswut
diese Story erzählt hätte, hätte ich die Irrenanstalt angerufen.
Der Arzt reagierte nicht. Seine Skepsis wuchs. Ich holte das Hologramm aus meiner Hosentasche und gab es dem Arzt. Er nahm es wortlos und schaute hinein. Er legte das Hologramm vor sich auf den Schreibtisch und zwirbelte es mit einem kräftigen, kurzen Schwung zwischen Daumen und Zeigefinger. Das Hologramm drehte sich schnell wie ein Kreisel.
»Da kann dem Jungen in dem Hologramm ja ganz schwindlig werden, bei dem, was Sie mir da auftischen.« Die Süffisanz war unüberhörbar. »Was wollen Sie von mir?«
Maria hatte eine Hand auf den Schreibtisch gelegt. Es war die linke Hand, die Buschtrommelhand. Gleich würde sie trommeln und die Plastiken würden auf dem Schreibtisch mit ihren langen, dünnen Gliedern einen spinnenartigen, wilden Urwaldtanz aufführen. Der Arzt würde mich mit einem der Elefantenzähne durch die Brust aufspießen. Oder mir mit beiden die Gehörgänge penetrieren. Ich sähe aus wie ein Berliner Zulukaffer. Statt Pflöcken quer durch die Nase mit übermäßigem Ohrschmuck versehen. Mittlerweile hielt ich alles für möglich. Auch, dass die schöne Unternehmerin wie der Geist aus der Flasche aus der Urne aufstieg und zum Buschgetrommel einen Schleiertanz aufführte. Ich hatte Grenzen überschritten, jenseits derer ich mich nicht mehr in der Gewalt hatte. Zerrspiegel, die mir Fratzen schnitten. Nicht mehr kontrollierbar. Alle Ampeln waren grün, gelb, rot gleichzeitig geschaltet. Sie blinkten im Ein-Achtel-Takt. Meine Stimme war schepprig, die eines Losverkäufers, der auf der Kirmes über Lautsprecher, die in ihm montiert waren, Glücksgewinne anpries.
»Der Junge in dem Hologramm sieht exakt aus wie dieser Philip, den ich hüten sollte. Die Mutter bezeichnete ihn als ein bisschen schwierig, aber lieb. Er war mehr als schwierig. Das Problem ist, dass der Junge im Hologramm nicht Philip sein kann, weil ich mit ihm noch vor wenigen Stunden telefoniert habe. Der Junge im Hologramm hat wie Philip ein Akkordeon. Die Identität scheint eine vollständige. Unmöglich! Die Asche eines Jungen rieselt aus einer zerbrochenen Urne, sein Pendant lebt. Dieselben sind sie nicht! Das alles ist sehr bizarr. Ich weiß.« Bizarr war leicht untertrieben. Entsprechend reagierte er.
»Ich rufe dann mal die Polizei an.« Das würde ich an seiner Stelle auch tun. Maria trommelte jetzt sehr heftig mit den Fingernägeln auf die Schreibtischplatte. Die Armreifen schellten, die Ringe klackerten. Es machte mich wahnsinnig.
»Maria!« Sie ließ sich von meinem Ausruf nicht stören. Der Arzt ignorierte den Lärm. Seine Geduld hätte ich gerne gehabt. Ich holte die Visitenkarte der Kommissarin aus meiner Jackentasche. Sie hatte sie mir auf dem Kommissariat gegeben. Ich schaute auf die Karte. Sie hieß Anna Glück, Hauptkommissarin. Ich gab dem Arzt die Karte. »Rufen Sie die Kommissarin Glück an. Sie leitet die Ermittlungen und ist über alles informiert. Anzunehmen, dass sie sofort hier ist. Sie wird alles bestätigen.«
Über alles informiert war sie eben nicht. Sie konnte von meinen letzten Besuchen bei Vera Kalb, Dr. Frank oder der Bestattungsunternehmerin nichts wissen. Bei ihrem Temperament musste ich mich auf einiges gefasst machen, wenn sie hier im Eiltempo anrauschte und ich ihr alles erzählt hatte. Ich hatte mich stattdessen klammheimlich abgesetzt und nicht mehr gemeldet. Das Ableben der Protagonisten war kein Pappenstiel. Es war Mord. Außerdem hatte ich ihr die Unterlagen, die ich bei Fricke eingesammelt hatte, bis jetzt vorenthalten und damit ihre Ermittlungen behindert. Ich musste auch damit rechnen, dass sie Barbara im Schlepptau hatte. Begeistert war die bestimmt auch nicht über mein plötzliches Abtauchen. Das konnte sie als Vertrauensbruch oder Verrat auffassen. Ich wollte die Ankunft der Damen nicht abwarten. Ich wollte einen Vorsprung wahren. Ich wollte Philip ohne Begleitung begegnen.
Der Arzt war im Begriff, die Nummer der Kommissarin zu wählen.
»Einen Moment noch!« Er hob die Augenbrauen. »Ja?« Er hörte auf zu wählen. »Es wäre mir sehr wichtig, wenn Sie mir eine Frage beantworten würden!«
»Die wäre?«
»Kennen Sie den Jungen?«
»Das wollte ich mit der Kommissarin diskutieren!«
»Tun Sie mir den Gefallen!«
»Warum?«
»Weil ich ihm helfen will.«
»Wenn er tot ist?«
»Er ist beides! Tot und lebendig. Mein Gott.«
»Was denn nun?« Er schaute mit einem mokanten Lächeln auf seine polierten Fingernägel
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