Kindswut
tranken wir zwei Flaschen Rotwein. Als ich fertig war, dämmerte der Morgen herauf und wir waren nicht mehr ganz nüchtern. Hundemüde dazu. Im Hinterhof zwitscherten die ersten Vögel. Das Gurren der Tauben war melancholisch.
Der kleine Junge über mir rannte wieder durch die Wohnung. Das machte er immer um diese Uhrzeit, als wollte er für immer weglaufen, so rannte er. Die schweren Schuhe trommelten auf dem Parkett. Nur weg, nur weg, trommelten sie. Ich hörte die leise Stimme seiner Mutter. Ich verstand nicht, was sie sagte. Sie hatte diesen grenzenlosen Blick, der sagte › Lauf, mein Junge, lauf, du kommst nie an ‹ und der dem Jungen keine Grenzen setzte, und diese immer verständnisvolle, liebe Stimme, Wattebäusche, die ihm die Luft nahmen. Er schrie mit einem schrillen Dauerton gegen Mutti an. Er schrie vergebens. Der mütterliche grenzenlose Blick bekam keine Grenzen. Durch kein Schreien auf der ganzen Welt. Die mütterliche Nabelschnur war auf einer riesigen Kabelrolle in ihrem Bauch aufgerollt und durchquerte alle Ozeane, wie Telefonkabel, die die Kontinente verbanden. Überall immer Mutti. Das würde dem Jungen eines Tages den Rest geben. Deregulierung des Seelchens auf der ganzen Linie. Ein Global Player auf engstem Raum. Ein Rennhähnchen in Muttis Hamsterrad. Die Metzgerin wetzte die Messer. › Guck mal, mein Herzblättchen, ach Söhnchen, du! ‹ – › Kikeriki! ‹ Nirgends ein Papi, der der Mutti in die Parade fuhr und rief: › Es reicht. ‹
Ein neuer Philip entstand über mir, und Wut packte mich. Vielleicht wehrte er sich ja, zerhackte, zerriss die Nabelschnur, egal wie – und packte den letzten Zipfel seiner selbst. Nichts wie weg, Junge.
Philip hatte mir eindrucksvoll und überzeugend in der Küche eine blutige Abschlachtung vorgespielt. Die der Frau Körner. Nicht übel. Wie würde er seine Mutter niedersäbeln? Wenn er es nicht schon getan hatte? Ich war gespannt, kühl bis ans Herz. Dass er sie, letzte Ausflucht für ihn, umbringen würde, jede Wette. Maria gähnte in einem fort. Ich bot ihr das Sofa im Esszimmer an.
»Gute Idee.«
»Wann wollen wir denn los?«
»Wenn wir wach sind.«
Kapitel 12
Der Knabe über mir trommelte mit seinen schweren Schuhen über das Parkett, unberührt von allen nächtlichen Rauchentwicklungen. Ein Wirbeln und Stampfen. Woher nahm er diese Energie? Wieso mutierte er jeden Morgen zum lärmenden Scheusal? Er stimmte seinen schrillen, sehr lauten, alles durchdringenden, lang anhaltenden Ton an, als wollte er Gläser zersingen. Der Leib seiner Mutter war nicht gläsern. Da konnte er schrillen, wie er wollte. Jetzt ging er an das offene Fenster über mir und schrillte spitz wie eine Nadel, die sich ins Ohr bohrte, in den Hinterhof. Keine Violine hatte einen besseren Resonanzboden wie dieser. Die Nadel bohrte sich aus dem Kehlkopf des Knaben in aller Gehör. Alle Fenster sollten sich öffnen. Sich wehren gegen diese Nadel, die sich durch die Gehörgänge fräste. Ein vielstimmiges › RUHE!!! ‹ Nichts dergleichen. Lediglich einige Fenster wurden zugeschlagen. Der Knabe stand verloren am offenen Fenster. Er wurde nicht erhört. Ein Kämpfen um nichts. › Nichts passiert, mein Junge. Das musst du schon selber machen. Dreh dich um. Schlag zu ‹ , dachte ich und erhob mich aus dem Bett. Ich schloss das Fenster. Es war ein hohes, französisches. Die Blätter des Baumes, der hoch und breitgipflig in der Mitte des Hofes stand, glänzten. Es hatte geregnet. Die ersten Sonnenstrahlen schimmerten auf dem nassen Blattwerk. Es war noch früh. Ich fühlte mich zerschlagen. Der Schlaf war zu kurz. Ich öffnete die Schlafzimmertüre und horchte. Ich hörte die langen Atemzüge von Maria. Sie war ein Nachtmensch und schlief bis in die Puppen. Ich würde sie wecken müssen. Auf Zehenspitzen trippelte ich in die Küche und machte Kaffee. Äthiopischen Gebirgskaffee, den ich über alles liebte, gekocht in einer speziellen Espressomaschine. Dazu immer zwei Zuckerwürfel und Kaffeesahne. Der Dauerton über mir war beendet. Der Sohn hatte seine Tagesration Widerstand abgeleistet. Bald würde er, mit gesenktem Kopf und resigniert, hinter seiner Mutter die Treppe hinuntersteigen, an meiner Türe vorbei. Ich könnte die Türe öffnen, ihn hereinbitten und seine Mutter die Treppe hinunterstoßen. Bisweilen war ich versucht, es zu tun. Ich stand hinter der Türe und wartete, bis ich die Schritte dieses traurigen Paares, Sohn und Mutter, nicht mehr hörte. Ich sinnierte,
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