Kindswut
durch das Guckloch auf das Hologramm. Sie war es. Der Rubin funkelte blutrot. Das war mehr als ein makabrer Scherz. Ich war mit einem Schlag stocknüchtern. Philip hatte ihr keine Galgenfrist gegeben. Er hatte sie umgebracht und im hauseigenen Krematorium verbrannt. Warum er die Asche in einer Schultüte verpackt hatte, blieb rätselhaft. Auch, wie er so schnell dieses Hologramm herstellen konnte. Es musste vorgefertigt, die Tat längst geplant worden sein. Hinter allem steckte Kalkül. Das waren keine spontanen Akte. Warum sollte Philip das alles planen? Entsprach ihm das? Es war eher die Handschrift der Frau Stadl. Sie war, ihre Geschäfte bewiesen es, ein Organisationstalent.
Man lernt nie aus, dachte ich, die Schule des Lebens ist unerbittlich. Ich verscheuchte diese Plattitüden. Nie würde ich erfahren, warum sie geschrien hatte wie ein Pferd im Todeskampf. »Ich mache uns einen Kaffee.«
»Mir lieber noch ein Bier.«
»Hol dir eins.« Sie nahm sich eins und wollte die Flasche wieder auf der Tischkante öffnen.
»Es geht auch so.« Ich gab ihr einen Flaschenöffner.
»Der Mensch ist ein Gewohnheitstier.« Sie haute die Flasche wieder auf der Tischkante auf. Der Tisch hatte jetzt eine zweite Macke. Ich ärgerte mich.
»Jetzt schau dir das mal an!« Sie platzierte ihren Arsch auf die Tischkante neben die beiden Macken. Sie waren nicht zu übersehen. Der Tisch war für immer geschändet. Das Bier gluckerte, als sie trank. Ich hätte sie am liebsten rausgeschmissen. Die schwarze Schminke unter ihren Augen war verschmiert. Die Wimperntusche bröselte. Sie schien mir noch hagerer als sonst in ihrem schwarzen Ledermantel mit den schulterlangen schwarzen Haaren und den Stirnfransen über dem bleichen Gesicht. Nur ihre vollen Lippen waren rot geschminkt. Mit einer Hand hielt sie die Bierflasche, mit der anderen Hand klackerte sie wieder mit den spitzen Fingernägeln ihr Buschgetrommel auf die Tischplatte. Das tat sie immer, wenn etwas im Anzug war.
»Du weißt, wer in der Urne ist?«
»Ich war so frei.«
»Kanntest du sie?« Sie trank einen Schluck. »Ich kannte sie, ja. Und?«
»Sie ist in der Urne, mein Gott!«
»Das ist sie.« Sie trank wieder. Ich fummelte das weggebrochene Hologramm aus meiner Hosentasche und reichte es ihr. Sie schaute hinein. Sie gab es mir zurück.
»Kennst du den Jungen?«
»Nein, ich kenne ihn nicht. Doch, ich kenne ihn. Ach, ich weiß nicht!«
»Habe ich von ihr. Eine Urne ist zerbrochen. Viele Urnen sind bei ihr. Lauter junge Männer drin. Alle Urnen sind mit einem Hologramm versehen. Die zerbrochene Urne war wohl eine ganz spezielle. Die Frau schrie wie ein sterbendes Pferd, als ich ging.«
Plötzlich weinte Maria, an die Tischkante gelehnt, ohne sich zu rühren, weinte sie. Einfach so rannen ihr die Tränen über die bleichen Wangen. Als säße ein Tränenmacher in ihr, der Wasser aus ihr pumpte. Ich versuchte sie zu trösten. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie plötzlich derart losheulte. Ich nahm sie schließlich in die Arme.
»Geht wieder.« Sie schob mich weg. Ich hatte noch nie gesehen, dass jemand sie geküsst oder umarmt hatte. »Kann ich mal ins Bad?«
»Ja sicher.« Sie ging ins Bad und kam kurz darauf wieder. Sie hatte die verschmierte Schminke weggewischt und den Lippenstift neu aufgetragen.
»Sah wohl schon besser aus.« Sie lächelte schüchtern. So kannte ich sie gar nicht. Ohne Maske. Keine kühl analysierende Psychologin mit dem Blick einer Stechuhr, die Seelen vermaß. Der Kaffee war fertig und ich schenkte ihn in zwei Tassen ein. Ich gab ihr eine. Sie blies hinein. Der Kaffee kräuselte sich leicht. Sie nahm ein Schlückchen. »Guter Kaffee.«
»Der beste.« Ich ließ ihr Zeit. »Zucker?«
»Immer ohne.«
»Ich meistens auch. Besseres Aroma.«
»Stimmt.«
»Ich kenne den Jungen. Es ist Philip. Zumindest sieht er genauso aus. Unverwechselbar.«
»Philip lebt aber.« Ich dachte an das Akkordeon. Sicher war ich meiner Sache nicht. Was machte ein Junge, der aussah wie Philip, Besitzer eines Akkordeons wie dieser, der aber nicht Philip war, im Hologramm? Oder war er es doch? Oder war es nur ein Bild von ihm, und in der Urne war ein anderer? Makabre Chimären begannen sich in meinem Schädel zu tummeln. Wütende Hornissen.
»Erzähl mir von der Bestattungslady.« Maria lachte kurz und trocken auf. Blohopp. Als hätte sie einen Sektpfropfen aus der Kehle gedrückt. »Sie verliebte sich in junge Männer, die todkrank waren und nicht mehr
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