Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
Vom Netzwerk:
hatte der Pulk einen Stopp eingelegt. Wie es Maria gelungen war, den Chef in seiner Geschäftigkeit anzuhalten, war mir schleierhaft. Er wurde von Maria aufgefordert, durch das Guckloch der Urne zu schauen, die sie noch in der Hand hielt. Dieses Ansinnen schien dem Arzt befremdlich. Welchem Arzt würde es nicht befremdlich erscheinen, früh morgens auf der Visite eine Urne zu inspizieren?
    Maria ließ nicht locker. »Wir sind auf der Suche nach einem Jungen, der womöglich in der Obhut einer jungen Frau war. Diese Obhut hat er womöglich nicht überlebt. Es gibt Gründe zur Annahme, dass dieser Junge bei Ihnen behandelt worden ist. Ich habe ihn jedenfalls hier auf dieser Station gesehen.«
    Maria nötigte ihm die Urne geradezu auf. Der Arzt nahm sie und hielt sie, immer noch unschlüssig, in der Hand.
    »Hat die Obhut nicht überlebt? Wäre das nicht eher ein Fall für die Polizei, verehrte Frau Kollegin?«
    Dass ein Junge, der auf seiner Station war, nicht überlebt hatte, aus welchen Gründen auch immer, hatte ihn, bei aller Vorsicht, gleichzeitig neugierig gemacht. Er schaute in das Guckloch der Urne. »Oh ja, diese Frau kenne ich. Ein reizendes Persönchen. Offensichtlich hat sie auch nicht überlebt. Oder wer ist in der Urne? Ich dachte schon, der Junge sei darin?« Er sah Maria jetzt sehr kritisch an. »Sie sind mir eine Erklärung schuldig. Warten Sie das Ende der Visite ab. Dann werden wir uns unterhalten, Frau Kollegin.« Mit dem Mann war nicht gut Kirschen essen. Er sprühte vor Energie. »Weiter.«
    Der gestrenge Chefarzt wurde zum Kinderverführer, sobald er es mit seinen kleinen Patienten zu tun hatte. Ein Mann von größter Behutsamkeit, der sich nur diesen kleinen Menschen widmete. Aus seinem Kittel zauberte er ein Krokodil und den Kasper. Das Krokodil wollte den Kasper fressen.
    › Das Krokodil! Das Krokodil! ‹ , warnten die Kinder den Kasper. Der erschrak furchtbar. Im nächsten Zimmer trommelte der Chefarzt an die Türe, ehe er eintrat. Auf drei Finger hatte er Fingerhüte aus Metall gesteckt. Galoppierende Pferde. Zum Galopp wieherte der Chefarzt. So ging es von Zimmer zu Zimmer, im Gleichschritt. Unerbittlich. Bis er wieder aus seinem Ärztekittel, wie aus einem Füllhorn, Märchenwelten zauberte. Die Visite war beendet.
    »Kommen Sie.«
    Maria hatte mir nach meinem Toilettengang wieder die Urne zurückgegeben. Wir folgten dem Chefarzt in sein Büro. Das war sehr groß und bestand im Wesentlichen aus einem ebenfalls sehr großen Schreibtisch, der rechts und links von zwei hohen Elefantenzähnen flankiert wurde. Auf dem Schreibtisch standen zwei afrikanische Skulpturen. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie waren sehr dünn mit noch dünneren langen Armen und Beinen. Sie schienen zu schweben. Ihr Gesichtsausdruck war von großem Ernst. Sie waren aus schwarzem Ebenholz geschnitzt. Beide trugen einen Schurz. Der war mehrfarbig. Ein Muster aus kleinen, fast in sich verwobenen Karrees. Rot, weiß, gelb. Mehr Ausstattung gab es nicht. Die Leere des Raumes verlieh dem Schreibtisch und den Elefantenzähnen eine enorme Wucht. Der Schreibtisch stand auf einem großen Kelim. Davor standen zwei schwarze Ledersessel. »Setzen Sie sich!«
    Wir setzten uns. Das Leder war sehr weich und fühlte sich an wie lebende Haut. Bestimmt atmete es. Ich hörte keine Atemzüge. Ich hielt die Urne auf meinen Knien. Ich kam mir albern vor. Der Chefarzt nahm hinter dem Schreibtisch Platz. Ich erwartete, dass er sich jetzt ein Käppi aus Leopardenfell aufsetzen und einen langen Speer aus dem Schreibtisch zaubern würde. »Jetzt erzählen Sie mal«, wandte er sich an Maria.
    »Herr Neuhaus kann Ihnen da eher Auskunft geben«, gab sie die Frage an mich weiter. Der Arzt sah mich erwartungsvoll an. Seine Skepsis war unübersehbar. Er rechnete mit einer Räuberpistole. Bestimmt hatte noch kein Mensch vor diesem gewaltigen Schreibtisch mit einer Urne auf seinen Knien gesessen, die die Asche einer schönen jungen Frau enthielt.
    »Ich wurde vor knapp einer Woche von einer gewissen Frau Stadl gebeten, ihren Sohn Philip zu beaufsichtigen. Das versuchte ich. Die Mutter ist seitdem spurlos verschwunden. Der Sohn ebenfalls. Es hat in der Zwischenzeit mehrere Morde gegeben. Gestern fand ich bei einer Bestattungsunternehmerin das hier. Ein Hologramm, das aus einer Urne herausgebrochen ist. Die Urne war im Institut der Unternehmerin, die in dieser Urne auf meinen Knien urplötzlich selbst eine letzte Stätte gefunden hat.« Wenn mir jemand

Weitere Kostenlose Bücher