Kindswut
Vergitterter Beichtstuhl. Ein Sohn namens Philip hinter dem Gitter des Beichtstuhls. Mund ohne Wörter. Ein Krüppel mit ihm im Beichtstuhl. Vermutete ich. Dann dem Bruder entrissen. Von Sophie, die auf todkranke, junge Männer abfuhr. Frau Stadl, Medusa und Medea. Mutterglück. Kindesglück. Schlangengrube. Ich wollte von Frau Stadl, die uns sicher durch den Verkehr lenkte, eine für mich fassbare Reaktion haben, die Sinn machte in dieser Monsterwelt, die sie inszeniert hatte. Sie war irre. Manisch. Die Welt des Irren sprengte alle Normen. Kein Puzzle passte ins andere. Die bizarren Puzzleränder waren uneinfügbar. Jeder Versuch, die Ränder zu glätten, zu schleifen, sie anzupassen, sie sichtbar, sinngefällig zu machen, scheiterte und führte zur eigenen Entkernung. Es blieb die Fassade, hinter der sich der Abgrund auftat. Ich stand kurz davor. Es fehlte nicht mehr viel, und ich sprang. Das wusste ich.
Wir fuhren am Alex vorbei. Von Weitem sah ich die Rikschas. Am liebsten wäre ich ausgestiegen. Hallo, schöne Rikschalenkerin, die gleiche Tour noch mal. Ich winkte. Es war eher ein leises Schnippen mit den Fingerkuppen. Gerade so angedeutet. Wir bogen in die Straße ein, in der das Hospiz ›Sonnenschein‹ lag. Sie fuhr nur noch im Schritttempo. Sie ließ auf ihrer Seite die Scheibe herunter und streckte den Kopf aus dem Fenster. Sie nahm Witterung auf. Etwas lag in der Luft. Ein ihr bekannter Geruch. Sie wusste nicht, von welcher Art. Sie hielt, ohne dass ich sie aufgefordert hatte, genau vor der Einfahrt des Hospizes. Sie erkannte den Ort, ohne sich an ihn zu erinnern. Frau Jodler erkannte sie sofort wieder.
»Guten Tag, Frau Stadl.«
»Kennen wir uns?«
Frau Jodler sah mich fragend an. »Ich wollte Frau Stadl den Teich zeigen.«
»Natürlich!« Wir verließen die sichtlich irritierte Frau.
Wir betraten den Garten. Ein älterer Mann warf einen Heuballen über das Gatter. Die Ziegen meckerten aufgeregt und trippelten mit den Hufen. »Wo sind wir hier?«
»Sie waren mit Sophie und dem Krüppel hier.« Sie sah sich um.
»Sie spinnen wohl. Ich war noch nie hier!«
»Das ist ein Hospiz für sterbende Kinder. Ich zeige Ihnen jetzt was.«
Sie packte mich wütend am Jackenärmel. »Treiben Sie keine Spielchen mit mir, Freundchen!« Der Klang ihrer Stimme war bedrohlich. Mit einem Ruck befreite ich meinen Ärmel aus ihrem Griff.
»Schön langsam, ja?« Ich musste mich beherrschen. Zugriffe dieser Art brachten mich in Rage. Ich steuerte auf den Teich zu. Sie folgte mir nicht. Sie stand vornübergebeugt, breitbeinig, wie ein Boxer, bereit zum Angriff.
»Sie Arschloch!«, zischte sie. »Kommen Sie nur«, höhnte sie. Ich ging zu ihr zurück und knallte ihr eine. Ganz trocken, nicht zu fest. Nicht wirklich schmerzhaft. Ein Wangenklaps zur Besinnung. Sie war höchst erstaunt. Ihre Augen weiteten sich. »Oh lalala!« Sie lachte.
»Wollen Sie es sehen?«
»Ich will alles sehen, mein Bezwinger.« Wir gingen zum Teich. Wir spiegelten uns in dem klaren Wasser. Wind strich darüber. Ein zartes Wellennetz entstand, in dem sich Sonnenstrahlen brachen und silbrig funkelten. Unsere Silhouetten zitterten im Wellenspiel, verfransten an den Rändern. Ich zog meine Jacke aus, krempelte die Hemdärmel hoch, griff ins Wasser und holte das Hologramm aus dem Steinnest. Das Wasser reichte mir bis zu den Ellenbogen. Wasserkringel flohen erschreckt davon, erholten sich vom derben Eingriff am Teichrand, wo sie verebbten.
Ich hielt ihr das Hologramm hin. »Schauen Sie hinein. Hier ist ein Guckloch.«
Sie wurde ganz steif. Sie wollte nicht. »Was soll der ganze Kinderkram?«, fauchte sie. »Scheren Sie sich zum Teufel!«, schrie sie mit sich überschlagender Stimme.
Es war mir schon aufgefallen, als sie sich im ›Dollinger‹ an dem Gürkchen verschluckt hatte. Sie hatte diesen Kiekser in ihrem kreischenden Gelächter, den ich von Philip kannte. Sozusagen der Fingerabdruck seiner Stimmbänder, der ihn unverwechselbar machte. Diesen Kiekser hatte sie in ihrem Spottgelächter, und jetzt eben kiekste es unüberhörbar, als sie unvermittelt losbrüllte. Ich täuschte mich nicht. Es waren die gleichen, typischen Kiekser. War es doch sie gewesen, die mich angerufen, die mich wüst beschimpft, bedroht und verhöhnt hatte? Und nicht Philip? Zweifel befielen mich. Sie zitterte immer noch vor Empörung.
Ich hielt ihr wieder das Hologramm hin. »Schauen Sie einfach mal rein.« Ich sagte es so locker wie möglich. Ich wollte sie nicht
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