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Kindswut

Kindswut

Titel: Kindswut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jochen Senf
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sich von selbst. Ich haute ihr mit Wucht auf den Rücken. Sie prallte mit der Brust auf die Tischkante. Das Gesicht versank im Quark. Der Schlag hatte geholfen. Ein Plopp kam aus dem Teller. Das musste das Gürkchen gewesen sein, das wie ein Sektpfropfen in ihrer Luftröhre gesessen hatte. Sie hob den Kopf ein wenig über den Teller. Tief sog sie den Atem in sich. Mehrmals tat sie das. Der Quark am Rand ihres Mundes blubberte beim Ein- und Ausatmen. Ein kleiner Krater entstand vor ihren Lippen. Sie richtete sich auf. Ihr Gesicht war weiß vom Quark, mit Dill garniert und einem Tomatenscheibchen. Das störte sie nicht im Geringsten. Wie ein geschickter Barbier legte sie mit dem Messer Hand an sich. Sie schabte den Quark von Backe, Stirn, Mund und Nase und leckte das volle Messer jeweils mit der Zunge ab, so, wie der Barbier die vom Schaum weiße Klinge am Tuch abwischte, mit dem er Kinn und Hals des Kunden drapierte. Als sich kein Quark mehr abschaben ließ, fuhr sie sich mit beiden Händen flach über das Gesicht und zerrieb den Rest.
    Schönheitspflege«, amüsierte sie sich. Sie sah makellos und tipp topp aus. Sie war eine echt scharfe Nummer mit einer Menge zackiger Risse in der Schüssel, durch die die Ränder des Lebens lugten.
    »Wissen Sie, was schlimm war?«, flüsterte sie und beugte sich wieder vor zu mir.
    »Schlimm?«
    »Als wir ihn fortbrachten. Sie und ich.«
    »Wer brachte wen fort?«
    »Das müssen Sie doch wissen. Philips Bruder. Der Zwilling! Philip hing so an ihm. War das ein Geschrei. Ein Elend. ›Lasst ihn mir! ‹ , jammerte er. Es ging nicht. Er musste fort. Sie nahm ihn mit. Es war besser so.«
    Ich hatte die Urne an den Tisch gelehnt. Ich nahm sie und gab sie ihr.
    »Was für eine schöne Schultüte!«, rief sie.
    »Schauen Sie mal rein!« Ich zeigte ihr das Guckloch. Sie schaute mit dem rechten Auge. Das linke war fest zugekniffen. Der linke Mundwinkel wurde dadurch hochgezogen. Es fehlte nur noch die Zigarettenkippe zwischen den Lippen, und die Gangsterbraut belauerte mit dem Fernglas ihr nächstes Opfer.
    »Das ist sie!« Sie strahlte und gab mir die Urne zurück. »Meine liebe Sophie. Sie hatte sich verguckt in diesen armen Krüppel. Meinen lieben Sohn. In mein Debilchen. Dass ihm dieses Glück noch widerfahren sollte.« Ich suchte in meinem Kopf verzweifelt nach einem Schalter, den ich umlegen konnte, um diese bizarre Opernszene zu beenden. »Er wurde Philip zwar entrissen. Aber es war gut so.« Sie hielt inne. Regungslos. Der Ausdruck in ihren Augen wurde leer. Ihr Gesicht wirkte angestrengt. Sie kramte in der entferntesten Schublade ihres Hirnareals nach einer Erinnerung. Endlich! »Wissen Sie, wo Philip ist? In seiner Wohnung ist er nicht! Da war ich! Er ist doch nicht fort? Wer hat da aufgeräumt? Sie?«, fragte sie mich.
    »Ich bringe Sie zu ihm!«, erwiderte ich.
    Sie hatte ein Auto. Einen großen, weinroten Lancia mit edler Holzvertäfelung, einem Lenkrad aus schwarzem Ebenholz, und die Sitze waren mit gelbem Leder bezogen.
    »Wohin?« Ich gab ihr die Adresse vom Sterbehospiz in Reinickendorf. Sie schien sich an nichts zu erinnern. Ich hielt es nicht für eine Masche, hinter der sie sich zur Tarnung versteckte, um ihre Spielchen zu treiben. Sie existierte in mehrfacher Ausfertigung. Ich wusste nicht, ob sie überhaupt die Wahl hatte, wer sie sein durfte oder sein sollte oder sein wollte. Sie geriet selbst ständig durcheinander wie ein in sich verheddertes Wollknäuel, deren Knoten sie zu entwirren suchte. Keine gestreckten Hände spannten die Wollfäden. Ihre Hände, torkelige Schatten, verfingen sich. Sie zerrten an den Fäden. Die Fäden rissen. Neue Knoten bildeten sich. Wut stieg in ihr hoch. Was kam nach der Wut? Hass? Was war nach dem Hass? Was war eine Minute später? Vernichtung? Glück? Ich gab es auf. Ich fand keine Erklärung.
    Ich wollte sie mit Frau Jodler konfrontieren, bei der sie in Begleitung von Sophie ihr Debilchen, wie sie ihren Sohn nannte, abgegeben hatte. Ich wollte sie zum Teich bringen, zum Steinnest. › Da liegt er ‹ , wollte ich zu ihr sagen, und, wenn sie es wollte, das Hologramm aus dem Wasser holen. Ich wollte ihr Mutterglück sehen. Ob es erblühte. In voller Pracht. Eine Fleisch fressende Orchidee. Spitze Zacken im lockenden Blütenkelch, die sich zu Gittern senkten. Das Opfer war umschlossen. Unentrinnbar. Ich selbst. Die immer schwächer werdenden Luftblasen aus dem Mund meiner Mutter unter dem Wasser. Nicht erinnerbare Erinnerung.

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