Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass
Nachmittag in der Wohnung gewesen war. Sie schienen durch Raymonds Anwesenheit eingeschüchtert, wohl weil sie es nicht gewohnt waren, ihn in Jackett und Krawatte zu sehen. Chagos Spezis trugen alle eigens angefertigte T-Shirts mit der Aufschrift »In innigem Gedenken an Chago — R. I. P.« und ihrem eigenen Namen auf der Brust.
Ich setzte mich neben Bibianna, und wir redeten beide so gut wie nichts. Gelegentlich sah uns jemand ins Gesicht, aber niemand sagte ein Wort zu mir. Die Gespräche um mich herum spielten sich vorwiegend auf Spanisch ab, sodass ich nicht mal richtig mithören konnte.
Immer mehr Leute kamen. Von Raymonds Brüdern war immer noch nichts zu sehen, aber ich entdeckte drei Frauen, die ich für seine älteren Schwestern hielt. Sie sahen sich auffallend ähnlich, mit dunklen Augen, vollen Lippen und makellosem Teint. Sie saßen dicht beieinander, schöne Frauen in den Vierzigern, rund und dunkel, wie Nonnen mit ihren Mantillas und ihren Rosenkränzen. Sie wechselten gelegentlich ein paar Worte, aber keine sprach mit Raymond, der geflissentlich demonstrierte, dass sie ihn einen Dreck kümmerten. Einmal ertappte ich ihn allerdings dabei, wie er verstohlen zu ihnen hinübersah. Da wurde mir klar, dass Bibianna nur eine weitere Version dieser Schwestern war, schön und unnahbar, so, wie es wohl auch die Mutter gewesen war. Armer Raymond. Sooft er die Geschichte auch in irgendwelchen Abwandlungen reinszenieren mochte — er würde doch nie ihre Liebe erringen, und es würde kein Happy End geben.
Ein Grüppchen von drei weiblichen Trauergästen trat jetzt an Bibianna heran, Chicanas in den Zwanzigern, eine mit einem Baby auf der Hüfte. Ich stand auf und schlich mich in Richtung Tür, wobei ich mich fragte, ob ich wohl irgendwie an ein Telefon gelangen könnte. Aber noch ehe ich den Ausgang erreicht hatte, war Luis neben mir. Er hielt mich am Arm fest. Ich beugte mich an sein Ohr. »Ich wüsste gern, ob es da oben irgendwo eine Toilette gibt.«
»Sie gehen nirgends hin.«
»Oh. Na ja, dann ist es wohl auch nicht so wichtig, ob es eine gibt oder nicht.«
Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl und sah auf meine Armbanduhr. Zehn nach acht. Ich hatte Hunger. Mir war langweilig. Ich war unruhig. Ich hatte Angst. Ich lebte jetzt schon so lange mit permanenten Kampf-oder-Flucht-Impulsen, und der Stress ließ meinen Kopf hämmern und meinen Magen krampfen. Luis klebte an mir wie eine Klette. Die nächsten fünfzig Minuten verbrachte ich damit, mich auf meinem Stuhl zu winden, die Beine bald so, bald so übereinander zu schlagen und an meinen Haaren herumzufummeln. Zu meiner Unterhaltung prägte ich mir die Gesichter ein, für den Fall, dass ich je jemanden vom Zeugenstand aus würde identifizieren müssen. Um zwanzig nach neun erschien dann endlich der für unseren Saal zuständige schwarzgekleidete Bestattungsmensch, um ostentativ auf seine Uhr zu schauen. Raymond begriff und begann, unter den noch verbliebenen Anwesenden die Runde zu machen und sich zu verabschieden.
Auf dem Heimweg setzten wir Luis bei seiner Wohnung ab. Sobald wir zu Hause ankamen, verschwand Raymond im Schlafzimmer, während Bibianna und ich mit Aufräumen begannen. Nicht dass es einer von uns so ein dringendes Anliegen gewesen wäre, aber es gab uns wenigstens etwas zu tun. Aus dem Hintergrund hörten wir, ohne es bewusst aufzunehmen, das Klimpern von Kleingeld, als Raymond den Inhalt seiner Taschen auf die hölzerne Kommode packte. Wir warfen leere Bierdosen in einen Müllsack, kippten randvolle Aschenbecher aus. Raymond trat aus dem Schlafzimmer und ging in das Bad, das normalerweise mir Vorbehalten war. Gleich darauf hörte ich die Wasserhähne quietschen. Es bollerte in den Rohren, und Wasser platschte gegen die Duschkacheln wie ein plötzlicher Frühlingsguss.
Ich sah zu Bibianna hinüber. »Wieso duscht er in meinem Bad?«
»Da kann er besser...« Sie machte mit der rechten Hand eine Bewegung zur linken Armbeuge hin.
»Er schießt?«
Mir dämmerte zuerst, was das Klimpern da eben im Schlafzimmer bedeutet hatte. Luis war nicht da. Kein Hund vor der Tür. Sie hörte, wie ich heftig einatmete, und sah mich an.
Ich sagte: »Herrgott, sind wir denn blöd?« Ich huschte rasch ins Schlafzimmer hinüber und griff mir die Wagenschlüssel von der Kommode, wo er sie abgelegt hatte. Ich zögerte und riss dann die Schublade mit den Pistolen auf. Die Schachtel lag noch da, wo ich sie gefunden hatte, auf dem Sortiment von falschen
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