Kinsey Millhone 06 - Dunkle Geschaefte - H wie Hass
darauf gerichtet, sich heimzuschleppen. Von Raymonds Brüdern Juan und Ricardo war nichts zu sehen, aber Bibianna versicherte mir, sie würden später im Bestattungsinstitut zu uns stoßen. Ich begriff, dass sich dieser letzte Abschied über den Abend hinziehen würde und dass unsere Anwesenheit dabei offenbar unumgänglich war. Ich fühlte mich in dieser ganzen Situation unwohl. Ich hatte Raymonds Bruder nicht gekannt, und ich kannte auch die Leute nicht, die kamen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Ich wartete nur auf eine Gelegenheit, mich diskret zu entschuldigen und in mein Zimmer zurückzuziehen. Jetzt tat sich etwas an der Wohnungstür. Der Priester erschien, in klerikalem Schwarz mit einem kleinen weißen Kragen-Bindestrich am Hals.
Bibianna beugte sich an mein Ohr und murmelte: »Father Luevanos. Der Gemeindepriester.«
Father Luevanos war in den Sechzigern, ein hagerer Mann mit einem wettergegerbten Gesicht und einer kräuseligen weißen Haarwolke. Er war klein und drahtig, mit schmalen Schultern und langen, dünnen Händen, die er mit himmelwärts gekehrten Handflächen seitlich von sich hielt wie der heilige Franziskus, nur ohne die Vögel. Er schritt durch die Menge und sprach ein paar leise Worte zu jedem seiner Schäfchen. Die Leute behandelten ihn wie einen König und flitzten auseinander, um ihm Platz zu machen. Raymond ging zu ihm. Father Luevanos nahm seine Hände, und die beiden redeten leise in einem Gemisch aus Englisch und Spanisch. Ich sah, wie Raymonds Schmerz unter dem mitfühlenden Zuspruch des Priesters zum Vorschein kam. Er weinte nicht, aber über sein Gesicht huschte eine eigentümliche Serie von Ticks, die aus der Entfernung wie die Zeitraffer-Aufnahme eines Tränenausbruchs wirkte. Ich schloss daraus, dass Chago für Raymond wohl wirklich ein Anker im Leben gewesen sein musste, vielleicht das einzige Mitglied seiner Familie, das ihn geliebt und das er wiedergeliebt hatte. Raymond fing meinen Blick auf. Er winkte mich zu sich und stellte mich dem Priester vor. »Sie ist aus Santa Teresa.«
Father Luevanos hielt meine Hände, während wir sprachen. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen. Sie haben eine nette Gemeinde dort droben in Santa Teresa. Seit wann haben Sie Valensuelo gekannt?«
»Wen?«
»Chago«, murmelte Raymond.
»Oh.« Ich fühlte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. »Na ja, eigentlich bin ich eine Freundin von Bibianna.«
Wie auf ihr Stichwort trat jetzt Bibianna zu uns, um den Priester zu begrüßen. Sie hatte sich umgezogen: schwarzer Rock, weiße Bluse und schwarze, hochhackige Schuhe. In ihrem Haar steckte eine rote Satinrose. Ihr Make-up stach scharf von ihrer Blässe ab. »Father...«, flüsterte sie. Sie war den Tränen nahe, und ihr Mund begann zu zittern, als er jetzt ihre Hände nahm. Er beugte sich dicht an sie heran und murmelte etwas auf Spanisch. Sie rang offenbar mit dem Impuls, sich ihm anzuvertrauen.
Nachdem Father Luevanos gegangen war, begann sich die allgemeine Stimmung aufzuhellen. Bei aller Trauer hatte der Nachmittag etwas Wohlig-Träges. Die Wohnungstür stand offen, und ein Teil der Gäste hatte sich nach draußen auf die Galerie verzogen. Ein paar Leute hatten Sechserpacks, Chips und Salsa mitgebracht. In die Gespräche mischte sich das Zischen und Ploppen von Kronkorken. Gedämpftes Lachen und Zigarettenrauch stiegen auf. Jemand hatte eine Stahlsaitengitarre dabei und zupfte komplizierte Melodien. Ein neun Monate altes Baby namens Ignatio tat fünf wackelige Schritte und sank dann auf sein windelbewehrtes Hinterteil, hochbefriedigt von dem Apfelmus, das ihm seine Kraftanstrengung eingetragen hatte.
Um halb sechs begann sich die Menge zu verlaufen. Wir sollten schon früher im Bestattungsinstitut sein, damit Raymond seinen Bruder sehen konnte, ehe die anderen kamen. Wir brachen um sechs Uhr auf. Bibianna und ich saßen auf dem Rücksitz. Luis fuhr, und Raymond saß stumm und aufgewühlt neben ihm. Er drückte ein Bündel an sich, das er aus dem Schlafzimmer mitgebracht hatte. Es war in einen weißen Satinschal eingeschlagen. Die emotionale Belastung hatte eine ganze Flut von Symptomen hervorgerufen, ein permanentes Gezucke und Gerucke, das sich mit seinem Gesichtsausdruck zu einem Bild des Jammers verband. Binnen einer Stunde hatte er sich vom skrupellosen Gangsterboss in ein verängstigtes Kind verwandelt, das hilflos der Qual entgegensah, die es erwartete.
Das Bestattungsinstitut residierte in einer luxuriösen viktorianischen
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