Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
ein Flanellhemd, beides zu hellem Grau ausgebleicht. Ohne mich zu beachten, machte sie sich an ihre Arbeit. Ich sah zu, wie sie fünf dicke Buletten auf den Rost legte. Dann ging sie zum Tisch und fing an, ihn mit Gabeln und Papptellern zu decken.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Kennen Sie die Frau von gegenüber?«
»Sind Sie eine Verwandte?«
»Nein, eine Freundin der Familie.«
»Höchste Zeit, dass jemand sich kümmert«, sagte sie bissig. »Was dort drüben vorgeht, ist eine ganz üble Schande.«
»Was geht dort drüben vor?«
»Jugendliche sind eingezogen. Sie sehen ja, wie verwahrlost alles ist. Taute Partys, laute Streitereien, Prügeleien. Wir hier draußen lassen jeden nach seiner Fasson selig werden, aber es gibt Grenzen.«
»Was ist mit Agnes? Wo ist sie? Sie wohnt doch bestimmt nicht mehr hier.«
Die Frau hob den Kopf und schaute zum Wohnmobil hinüber. »Marcus? Kommst du bitte mal? Eine Frau fragt nach Old Mama.«
Die Tür des Winnebago ging auf, und ein Mann schaute heraus. Er war mittelgroß, feingliedrig, und seine Hautfarbe ließ auf eine romanische Abstammung schließen. Er hatte dunkles Haar, das er aus der Stirn zurückgekämmt trug, eine kurze, gerade Nase und sehr volle Tippen. Die Augen waren von schwarzen Wimpern umrahmt. Er sah aus wie ein männliches Model in einem Inserat für italienische Herrenbekleidung. Einen Augenblick lang musterte er mich unbeteiligt.
»Wer sind Sie?«, fragte er. Ohne Akzent. Er trug eine gebügelte Hose und ein geripptes Altmännerunterhemd.
»Ich heiße Kinsey«, sagte ich. »Die Tochter von Agnes Grey hat mich gebeten, herzufahren und mich nach ihr zu erkundigen. Haben Sie eine Ahnung, wo sie steckt?«
Überraschenderweise streckte er mir die Hand entgegen, um sich vorzustellen. Ich nahm sie. Sein Handteller war weich und heiß, sein Händedruck fest.
»Ich bin Marcus. Das ist meine Frau Faye. Wir haben Old Mama schon lange nicht mehr gesehen. Das muss Monate her sein. Wir haben gehört, dass sie krank geworden ist, aber ich weiß es nicht sicher. Das Krankenhaus ist in Brawley. Fragen Sie dort nach ihr.«
»Hätte man dann nicht ihre Familie verständigt?«
Schulterzuckend schob Marcus die Hände in die Taschen. »Sie hat möglicherweise verschwiegen, dass sie Familie hat. Ich höre es jetzt auch zum ersten Mal. Sie ist ein sehr zurückhaltender Mensch. Lebt fast wie eine Einsiedlerin. Kümmert sich um ihre eigenen Angelegenheiten, solange die anderen sich um die ihren kümmern und niemand ihre Kreise stört. Wo wohnt diese Tochter?«
»Santa Teresa. Sie macht sich Sorgen um ihre Mutter, hatte aber keine Möglichkeit, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.«
Die beiden schienen von Irene Gershs Besorgnis nicht so recht überzeugt zu sein. Ich wechselte das Thema und warf einen Blick zurück zu dem Caravan auf der anderen Straßenseite. »Wer ist das kleine Monster, das vorhin auf der Türschwelle gesessen hat?«
»Es sind zwei«, antwortete Faye mürrisch. »Junge und Mädchen. Sie sind vor ein paar Monaten hier aufgetaucht und haben sich den Wohnwagen unter den Nagel gerissen. Müssen gehört haben, dass er leer steht, denn sie sind sehr rasch eingezogen. Es sind bestimmt Ausreißer. Wovon sie leben, ist mir schleierhaft. Wahrscheinlich stehlen sie oder gehen auf den Strich, was sich eben so bietet. Wir haben sie gebeten, die Kloake zu säubern, aber sie denken nicht daran.«
»Kloake« war eine freundliche Umschreibung für die Säcke voller Scheiße. »Das Kind, das ich gesehen habe, kann noch nicht einmal zwölf gewesen sein«, sagte ich.
»Sie sind fünfzehn«, antwortete Faye. »Der Junge jedenfalls ist fünfzehn. Sie benehmen sich wie wilde Tiere, und ich weiß, dass sie Drogen nehmen. Sie durchsuchen immer unseren Abfall nach etwas Essbarem. Manchmal kommen andere Jugendliche und kampieren bei ihnen. Es hat sich rumgesprochen, dass sie hier eine sturmfreie Bude haben.«
»Können Sie sie nicht der Polizei melden?«
Marcus schüttelte den Kopf. »Haben wir schon versucht. Sie lösen sich sofort in Luft auf, wenn jemand kommt.«
»Könnte es zwischen Agnes’ Verschwinden und ihrem Einzug einen Zusammenhang geben?«
»Das bezweifle ich«, sagte er. »Sie war schon zwei oder drei Monate weg, als die beiden hier ankamen. Jemand hat ihnen vielleicht gesagt, dass der Caravan unbewohnt ist. Sie schienen nie zu befürchten, dass Old Mama zurückkommen könnte. Ich weiß, dass sie den Wagen so ziemlich auseinander genommen haben, aber
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