Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
kritisiert, benotet, besprochen. Musik war das einzige Fach, das ich mochte, weil man ins Buch schauen durfte, obwohl man manchmal auch aufstehen und ganz allein Vorsingen musste, und das war die Hölle. Die anderen Kinder waren noch schlimmer als der Unterricht. Ich war klein für mein Alter und immer Zielscheibe von Angriffen. Meine Mitschüler waren schlau und hinterhältig und heckten alle möglichen bösartigen Streiche aus, die sie dem Fernsehen abschauten. Und wer sollte mich vor ihren Gemeinheiten schützen? Die Lehrer halfen nicht. Wenn ich die Fassung verlor, bückten sie sich, bis sie mit mir auf gleicher Höhe waren, und ihre Gesichter füllten mein Gesichtsfeld aus wie stürzende Planeten, die sich gleich in die Erde bohren würden. Wenn ich heute zurückblicke, begreife ich, wie sehr ich sie beunruhigt haben muss. Ich war eines jener Kinder, die anscheinend ganz ohne Grund ständig jämmerlich weinten oder kotzten. An Tagen, an denen ich besonders verängstigt war, tat ich manchmal beides. In der fünften Klasse war ich fast ununterbrochen in Schwierigkeiten. Ich war nicht rebellisch — dazu war ich zu schüchtern — , aber ich gehorchte nicht, missachtete die Vorschriften. Nach dem Lunch, zum Beispiel, versteckte ich mich auf dem Mädchenklo, anstatt zum Unterricht zu gehen. Ich sehnte mich danach, hinausgeworfen zu werden, bildete mir irgendwie ein, ich wäre für immer von der Schule befreit, wenn sie mich rauswarfen. Ich erreichte mit meinem Verhalten jedoch nur, dass ich immer wieder zum Rektor zitiert wurde oder endlose Stunden mitten in der Halle auf einem kleinen Stuhl sitzen musste. Öffentlich angeprangert, gewissermaßen. Meine Tante stürzte sich wie ein Racheengel auf den Rektor und machte ihm einen höllischen Krach, weil er mich einer so unmenschlichen Prozedur aussetzte. Tatsächlich fühlte ich mich nur das erste Mal gedemütigt. Später gefiel es mir recht gut, in der Halle zu sitzen. Es war still. Ich war allein. Niemand stellte mir Fragen oder zwang mich, etwas an die Tafel zu schreiben. In den Pausen sahen die anderen Kinder mich kaum an, sie schämten sich für mich.
»Miss?«
Ich blickte auf. Eine Frau in Schwesterntracht stand vor mir. Ich konzentrierte mich auf meine Umgebung. Jetzt sah ich, dass im Korridor mehrere Rollstühle geparkt waren. Die Insassen waren alt und gebeugt. Einige starrten stumpf auf den Boden, andere wimmerten vor sich hin. Eine Frau wiederholte nörgelnd und endlos: »Jemand soll mich hier rausholen. Jemand soll mich rauslassen. Jemand soll mich hier rausholen...«
»Ich suche Agnes Grey.«
»Patientin oder Angestellte?«
»Eine Patientin. Zumindest war sie es vor etwa zwei Monaten.«
»Versuchen Sie es in der Verwaltung.« Die Schwester zeigte auf die Büros zu meiner Rechten. Ich riss mich zusammen und wandte den Blick von den Schwachen und Gebrechlichen ab. Vielleicht führt das Leben in einer schnurgeraden Linie von den Schrecken der Schule zu den Schrecken eines Pflegeheims.
Die Verwaltung war provisorisch in Räumen untergebracht, in denen früher vermutlich der Schulleiter residiert hatte. Ein Teil der weitläufigen Eingangshalle war durch Glaswände abgeteilt worden; in dem so entstandenen kleinen Raum befand sich jetzt die Aufnahme. Ich wartete vor dem Schalterfenster, bis eine Frau mit einem Arm voll Akten aus dem Büro kam, das hinter dem Glaskäfig lag. Sie erblickte mich und steuerte mit einem unpersönlichen Lächeln auf mich zu. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Hoffentlich«, sagte ich. »Ich suche eine Frau namens Agnes Grey. So viel ich weiß, war sie vor ein paar Monaten hier Patientin.«
Die Frau zögerte kurz und sagte dann: »Darf ich fragen, warum Sie sich für sie interessieren?«
Ich entschloss mich, es mit der Wahrheit zu versuchen, ohne zu ahnen, wie beliebt ich mich dadurch machen sollte. Ich gab ihr meine Karte und erzählte meine Geschichte von Irene Gersh, die mich gebeten hatte, ihre Mutter zu finden; ich schloss mit der Frage, die ich schon so oft gestellt hatte: »Wissen Sie zufällig, wo sie jetzt ist?«
Sie sah mich einen Moment blinzelnd an. Irgendein innerer Prozess bewirkte eine Veränderung in ihren Zügen, mir war jedoch nicht klar, wie das mit meiner Bitte zusammenhing. »Entschuldigen Sie mich.«
»Aber gern.«
Sie verschwand wieder im hinteren Büro und erschien einen Augenblick später mit einer zweiten Frau, die sich als »Elsie Haynes, Leiterin dieses Hauses« vorstellte. Sie war vermutlich in den
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