Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
wenn sie einem i sein Tüpfelchen aufsetzte. Sie legte auf und benutzte ein Lineal, um den Papierstreifen abzutrennen, auf den sie die Adresse notiert hatte.
»Agnes Grey wurde am 5. Januar mit dem Krankenwagen ins Pioneers eingeliefert. Sie war vor einem Café in Downtown zusammengebrochen. Die Diagnose des Aufnahmearztes lautete auf Lungenentzündung, Unterernährung, akute Entwässerung und Altersschwachsinn. Am 2. März wurde sie ins Rio Vista Convalescent Hospital überführt. Das ist die Adresse. Geben Sie uns Bescheid, wenn Sie sie dort finden. Wenn nicht, können Sie wieder herkommen und eine Vermisstenmeldung ausfüllen. Wir werden tun, was wir können.«
Ich warf einen Blick auf das Papier, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche meiner Jeans. »Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.« Als ich den Satz endlich herausbekam, hatte sie sich schon abgewandt und tippte wieder eifrig an ihrem Bericht. Ich benutzte die Hand, die ich ihr reichen wollte, um mich an der Nase zu kratzen, und kam mir vor wie jemand, der ein Winken erwidert und dann feststellen muss, dass der fröhliche Gruß jemand anderem gegolten hat.
Als ich zu meinem Wagen ging, kam mir der Gedanke, dass man mir in diesem Genesungsheim vielleicht gar keine Auskunft über Agnes Grey geben würde. Wenn sie noch Patientin war, bekam ich wahrscheinlich ihre Zimmernummer und durfte zu ihr hinein. Aber wenn sie schon entlassen worden war, würde es möglicherweise schwieriger werden. Das Krankenhauspersonal ist nicht mehr so geschwätzig wie früher. Es gab schon zu viele Prozesse wegen Verletzung des Persönlichkeitsrechts. Ich darf mir meine Chancen nicht verderben, dachte ich.
Ich fuhr ins »Vagabond« zurück, zog den Reißverschluss meiner Segeltuchtasche auf, nahm mein »Kleid für alle Gelegenheiten« heraus und schüttelte es kräftig. Dieses treue Stück ist das einzige Kleid, das ich besitze, aber ich bin darin immer richtig angezogen. Es ist schwarz, kragenlos, mit langen Ärmeln und einem Reißverschluss im Rücken, aus einem glatten Zauberstoff, dem man einfach alles antun kann, ohne dass er Schaden nimmt. Man kann darauf sitzen, kann es zerdrücken, zerknüllen, zu einem Strick drehen oder zu einem Knäuel zusammenrollen. In der Sekunde, in der man es auseinander faltet und ausschüttelt, nimmt es seine ursprüngliche Form wieder an. Ich wusste nicht einmal mehr so genau, warum ich es mitgebracht hatte — wahrscheinlich weil ich hoffte, in der Stadt eine heiße Nacht zu erleben. Ich warf das Kleid aufs Bett, zusammen mit meinen (ein bisschen abgestoßenen) flachen schwarzen Schuhen und einer schwarzen Strumpfhose. Ich gönnte mir eine Drei-Minuten-Dusche, saß dreizehn Minuten später wieder im Wagen und sah wie eine ernst zu nehmende Erwachsene aus, hoffte ich wenigstens.
Das Rio Vista Convalescent Hospital lag mitten in einer Wohngegend — ein einstöckiges stuckverziertes Gebäude in einem trüb aussehenden Navajo-Weiß. Das Grundstück war von einem Maschendrahtzaun umgeben, das breite Tor zum Parkplatz stand offen. Ein solches Krankenhaus hatte ich noch nie gesehen. Das Gelände drumherum war flach, nicht bepflanzt und bestand hauptsächlich aus gesprungenem Asphalt, auf dem die Wagen parkten. Als ich mich dem Eingang näherte, sah ich, dass der brüchige Asphalt mit merkwürdigen verblassten Kreisen und Vierecken bemalt war. Erst als ich in der Halle stand, ging mir auf, was ich gesehen hatte. Ein Spielfeld. Das war einmal eine Grundschule gewesen. Hier hatte man einst Ball gespielt. Im Innern des Gebäudes sah es fast genauso aus wie in der Grundschule, die ich besucht hatte. Hohe Räume, Holzfußböden, Lampen, die wie kleine runde Monde aussahen. An der Wand mir gegenüber stand noch immer ein Trinkbrunnen, weißes Porzellan mit chromglänzenden Armaturen, so niedrig angebracht, dass auch kleinere Kinder sie erreichten. Es roch sogar genauso — nach Gemüsesuppe. Für einen Moment war die Vergangenheit greifbar nah, legte sich wie ein Stück Cellophan über die Wirklichkeit und löschte sie aus. Die gleiche Angst, die mich an jedem Tag meiner Jugend gepeinigt hatte, überfiel mich hier. Ich hatte die Schule verabscheut. Immer wieder wurde ich von den Gefahren überwältigt, die ich in allen Ecken lauern sah. Die Schule war gefährlich. Es gab unendlich viele Hürden: Prüfungen in Rechtschreiben, Geographie und Mathe, Hausaufgaben, unangesagte mündliche Tests und Arbeitshefte. Alles, was man tat, wurde beurteilt,
Weitere Kostenlose Bücher