Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Sechzigern, rundlich, und sie hatte eine Frisur, die, schnurrbartkurz im Nacken, durch ein Haarteil rötlich brauner Locken ergänzt wurde. Dadurch wirkte ihr Gesicht zu groß für ihren Kopf. Sie lächelte mir jedoch überaus liebenswürdig zu. »Miss Millhone, wie ganz, ganz reizend!«, sagte sie, beide Hände ausstreckend. Der Händedruck gestaltete sich zu einer Art Sandwich, von ihren Händen gebildet, mit meiner Hand als Lunchfleisch dazwischen. »Ich bin Mrs. Haynes, aber Sie müssen mich Elsie nennen. So — was kann ich für sie tun?«
Das war beunruhigend. Einen solchen Empfang bin ich in meinem Beruf nicht gewöhnt. »Freut mich, Sie kennen zu lernen«, sagte ich. »Ich versuche den Aufenthaltsort einer gewissen Agnes Grey festzustellen. Man hat mir gesagt, sie sei aus dem Pioneers hierher verlegt worden.«
»Das ist richtig. Mrs. Grey ist seit Anfang März bei uns. Sie werden sie bestimmt sehen wollen, daher habe ich die Etagenaufsicht zu uns gebeten. Sie wird Sie zu Mrs. Greys Zimmer begleiten.«
»Wunderbar. Ich bin Ihnen sehr verbunden. Offen gesagt, habe ich nicht erwartet, sie hier zu finden. Ich dachte, sie sei längst wieder draußen. Geht es ihr gut?«
»O Gott, ja. Es geht ihr viel besser — recht gut — , aber sie müsste ständig jemanden um sich haben, der sie versorgt. Wir können Patienten nicht entlassen, die nicht wissen, wohin. Soweit uns bekannt ist, hat Mrs. Grey keine feste Adresse, und sie hat uns nie anvertraut, dass es Verwandte gibt. Wir sind überglücklich zu hören, dass sie eine Tochter in diesem Staat hat. Ich bin überzeugt, Sie werden Mrs. Gersh bald Bericht erstatten und alles in die Wege leiten, damit Mrs. Grey in ein Pflegeheim nach Santa Teresa verlegt wird.«
Ah. Ich merkte, dass ich nickte. Das Mäntelchen selbstloser Fürsorge wurde fadenscheinig. Ich versuchte es jetzt selbst mit einem Reklamelächeln, um mich nicht in Irene Gershs Namen zu irgendetwas zu verpflichten. »Ich weiß nicht, was Mrs. Gersh tun will und wird. Ich habe versprochen, sie anzurufen, sobald ich festgestellt habe, was los ist. Sie wird wahrscheinlich mit Ihnen sprechen wollen, bevor sie eine Entscheidung trifft, aber ich nehme an, dass sie mich bitten wird, Agnes nach Santa Teresa mitzubringen.«
Elsie und ihre Assistentin wechselten einen Blick.
»Gibt es da ein Problem?«
»Nun, nein«, sagte sie. Ihr Blick schweifte zur Tür. »Das ist Mrs. Renquist, die zuständige Aufsicht. Ich glaube, sie ist diejenige, mit der Sie die Sache gründlich besprechen sollten.«
Eine neue Vorstellungsrunde, neue Erklärungen. Mrs. Renquist war etwa fünfundvierzig, dünn und sonnengebräunt mit einem großen, freundlichen Mund und der fahlen, faltigen Haut der starken Raucherin. Das kastanienbraune Haar hatte sie im Nacken zu einem straffen Knoten geschlungen, der wie ein Krapfen aussah, wahrscheinlich mit Unterstützung eines jener leicht verformbaren Nylondinger, die man bei Woolworth kaufen kann. Die drei Frauen standen um mich herum wie drei weltliche Nonnen, die unaufhörlich auf mich einmurmelten und irgendetwas beteuerten. Ein paar Minuten später eilten Mrs. Renquist und ich durch den Korridor zu ihrer Abteilung.
5
Bevor ich Agnes Grey sah, hörte ich sie bereits. Mrs. Renquist und ich waren die breite, geschwungene Treppe in den ersten Stock hinaufgestiegen. Wir sprachen kaum miteinander, als wir durch den oberen Korridor gingen. Der Charakter einer Grundschule war auch hier noch auf seltsame Weise erhalten geblieben, trotz der umfangreichen Umbauten, die notwendig gewesen waren, um die Räumlichkeiten ihrer derzeitigen Nutzung anzupassen. Die ehemaligen Klassenzimmer waren sehr groß gewesen, mit breiten Doppelfenstern, die vom Boden bis fast zur Decke reichten. Licht strömte durch die Scheiben hinter dünnmaschigem Drahtgeflecht. Das Holzwerk war noch original, polierte Eiche, zu einem schimmernden Rostbraun gealtert. Hier oben hatte man die abgetretenen Holzfußböden mit marmorierten weißen PVC-Fliesen belegt, und die früher weitläufigen Räume waren in kleine Zweibettzellen unterteilt worden. Die Wände waren hellgrün und hellblau gestrichen. Alles war sehr sauber, wenn auch unpersönlich, die Luft geschwängert mit den säuerlichen Ausdünstungen intimer Körperfunktionen. Überall sah man alte Menschen, in den Betten, in Rollstühlen, auf Krankentragen, in dem breiten Korridor auf harten Holzbänken kauernd; untätig, von ihrer Umgebung isoliert, da ihre Sinne mit den Jahren
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