Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
immer schwächer geworden waren. Sie schienen so reglos wie Pflanzen, die sich damit abgefunden hatten, dass sie nur unregelmäßig gegossen wurden. Bei einer solchen Lebensweise musste jeder schrumpfen und eingehen: keine Bewegung, keine Luft, keine Sonne. Sie hatten nicht nur Freunde und Familie, sondern auch die meisten Krankheiten überlebt, so dass sie mit achtzig und neunzig unangreifbar schienen, dazu ausersehen, ohne Erlösung ein Leben zu ertragen, das sich bis in gähnende Ewigkeiten dehnte.
Wir kamen an einem Bastelzimmer vorüber, wo sechs Frauen an einem Tisch saßen und aus Nylonschlingen auf roten Metallrahmen Topfuntersetzer herstellten. Ihre Bemühungen fielen genauso unglücklich aus wie die meinen, als ich mich mit fünf Jahren in derselben Fertigkeit versuchte. Ich hatte den Scheiß schon damals verabscheut und freute mich nicht gerade darauf, mich am Ende meiner Tage wieder damit beschäftigen zu müssen. Vielleicht hatte ich Glück und wurde von einem Bierlaster überfahren, bevor man mich zu etwas so Entwürdigendem zwang.
Der Aufenthaltsraum lag offenbar direkt vor uns, denn mir schlug das Geplärr eines Fernsehers entgegen, laut genug, dass auch in ihrer Hörfähigkeit beeinträchtigte Ohren der Dokumentarsendung folgen konnten, die allem Anschein nach gerade gezeigt wurde. Das Trommeln und Kreischen ließ auf Stammesriten einer Kultur schließen, die von Stille nichts hielt. Wir bogen nach links ab und betraten ein Sechsbettzimmer, in dem die Patientinnen nur durch Vorhänge voneinander getrennt waren. Am Ende des Raums entdeckte ich die Quelle des Aufruhrs. Es war gar nicht der Fernseher. Ohne zu fragen, wusste ich, dass es Agnes war, die splitterfasernackt auf dem Bett einen unanständigen Boogie tanzte und sich dazu begleitete, indem sie mit einem Löffel auf eine Bettpfanne trommelte. Sie war groß, dünn, ganz unbehaart, bis auf den knochigen Kopf, der von einem Heiligenschein aus büscheligem weißen Flaum eingerahmt wurde. Unterernährung hatte ihr den Bauch aufgetrieben, und ihre langen Glieder waren zum Skelett abgemagert.
Ihre untere Gesichtshälfte war in sich zusammengefallen, das Kinn dicht unter die Nase gerutscht, da keine Zähne mehr vorhanden waren, die den nötigen Abstand gewährleisteten. Ihre Lippen waren so geschrumpft, dass man sie nicht sah, und da ihr Schädel ganz flach war, hatte sie große Ähnlichkeit mit einem langbeinigen, hochaufgeschossenen Vogel mit klaffendem Schnabel. Sie kreischte wie ein Strauß, und ihre glänzenden schwarzen Augen schnellten von einem Punkt zum anderen. Als sie uns erblickte, schleuderte sie die Bettpfanne wie eine Rakete in unsere Richtung. Sie schien sich großartig zu amüsieren. Eine etwa zwanzigjährige Schwesternhelferin stand hilflos dabei. Offenbar war sie während ihrer Ausbildung auf einen solchen Pflegling nicht vorbereitet worden.
Mrs. Renquist näherte sich Agnes völlig gleichmütig, blieb nur einmal kurz stehen, um der Frau im nächsten Bett, die Jesus leidenschaftlich um Erlösung anflehte, beruhigend die Hand zu tätscheln. Nachdem sie sich behauptet hatte, gab sich Agnes jetzt damit zufrieden, auf den Bettdecken herumzumarschieren und den anderen Patientinnen zu salutieren. Mir schien das eine wundervolle Art häuslichen Körpertrainings. Ihr Benehmen kam mir viel gesünder vor als die Passivität ihrer Zimmergenossinnen, die in ihrem jammernden Elend dalagen. Agnes hatte wahrscheinlich ihr Leben lang immer alles auf den Kopf gestellt, und daran hatte sich auch im Alter nichts geändert.
»Sie haben Besuch, Mrs. Grey.«
»Was?«
»Sie haben Besuch.«
Agnes blieb stehen und sah mich an. Ihre Zunge wurde sichtbar und verschwand wieder. »Wer is ’n das?« Ihre Stimme klang heiser, weil sie so laut gekreischt hatte. Mrs. Renquist reichte ihr die Hand und half ihr vom Bett herunter. Die Schwesternhelferin nahm ein sauberes Nachthemd aus dem Nachttisch. Mrs. Renquist schüttelte es aus, hängte es Agnes um die knochigen Schultern und schob einen Arm nach dem anderen in die Ärmel. Agnes ließ es mit der Gefügigkeit eines Babys über sich ergehen, die triefenden Augen noch immer aufmerksam auf mich gerichtet. Ihre Haut war voller Farbtupfer: hellbraune Altersflecken, rosafarbene und weiße Stellen, knotige blaue Adern, Schorf, wo heilende Risse grellrote Streifen zurückgelassen hatten. Die Epidermis war so dünn, dass ich fast die blassgrauen Umrisse innerer Organe zu sehen erwartete wie bei einem frisch
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