Some like it heiß
1. ASHES TO ASHES
»Ist das überhaupt erlaubt?«
Ich stand auf einem Hafendamm in West Harwich, Massachusetts, mit meinem Bruder und meiner Schwester.
»Fuck it«, sagte Ralph und warf eine Handvoll meiner Mutter Richtung Atlantik.
Wir waren nach Pleasant Beach gekommen, dem Lieblingsstrand unserer Kindheit, um die Asche meiner Mutter zu verstreuen. Die Legalität dieser Aktion war eigentlich egal, weil es April und stürmisch und die ganze Halbinsel Cape Cod von einem bitterkalten Wind völlig zerzaust war. Wir konnten kaum aufrecht stehen, und die Wellen prallten krachend gegen unseren immer rutschigeren Standort. Was rau und romantisch klingt, war extrem unpraktisch für unsere halblegale Operation.
Vielleicht gibt es ja eine bestimmte Technik für Mutteraschezerstreuung, aber wir kannten sie nicht. Ich hatte noch nie so was gemacht. Mein Vater wurde klassisch im Sarg beerdigt, neben meinen Großeltern, Menschen, die ich niemals kennengelernt hatte. Sein Tod kam unerwartet, ich war siebzehn und in einem Schockzustand, als wir einen Familienausflug machten, um den Sarg auszusuchen.
The Conley Funeral Home war wie ein riesiges Autohaus mit einem überwältigenden Angebot von Totenkistenmöglichkeiten: Eiche oder Mahagoni, Satin oder Samt, Opel Astra oder Mercedes E-Klasse. Niemand wollte geizig sein bei der Bestattung eines geliebten Familienmitglieds, aber in der Mall für Todesaccessoires war alles sauteuer, sie war viel zu hell beleuchtet, und meine Mutter konnte nur weinen und brauchte dringend einen Wodka Tonic. Eine Stunde vorher hatte ich mit meinem Bruder einen dicken Joint geraucht. Wir standen da, mitten im Parkhaus des Todes, ahnungslos und verloren, während das Radio im Empfangsbereich »Dust in the Wind« von Kansas spielte. Wir wollten lachen, wir wollten heulen und brauchten dringend etwas Süßes. Wir waren überrumpelt von der Realität.
Zweiunddreißig Jahre später waren wir in einem ähnlichen Zustand, diesmal ohne Drogen und open air. Wir drei waren selten unter uns gewesen in den letzten zweiunddreißig Jahren – etwas war immer dazwischengekommen: Jobs, Lebenskrisen, Ehegatten, Streitereien, Kinder, Kontinente. Jetzt standen wir zusammen und versuchten, unsere Mutter gegen den Wind zu werfen – was wirklich nicht einfach war.
Am Tag vorher, nach dem Trauergottesdienst, hatte der Bestatter uns neben der Urne vier kleine rote Samtbeutelchen gegeben – eins für jedes Kind und eins extra für das Meer. Jedes Beutelchen war mit einer silbernen Kordel zusammengebunden, darin befand sich ein kleines Ziploc-Tütchen voller Asche, ein wasserfestes Plastiktäschchen, zusammengehalten von einem weißen Geschenkband. Es sah aus wie ein Mitbringsel von Marilyn Mansons Hochzeit oder ein Teil eines Adventskalenders von einem kreativen kolumbianischen Drogenschmuggler.
Ich wurde sofort panisch – wie würde ich meinen Anteil mütterlicher Überreste zurück nach Deutschland transportieren? Ich bin sicher, dass es irgendein deutsches Amt gibt, das zuständig ist für das Importieren ausländischer Elternreste,mit Erläuterungen und Einreiseerlaubnis und ausführlichen Formularen. Ich hatte keine Zeit und keine Nerven dafür. Vielleicht sollte ich den Beutel in mein Beautycase packen und, falls jemand fragte, erzählen, das sei ein Körperpeeling, Rügener Kreideschlammpackung oder so was. Maybe I could stick her in a Schüßlersalzdöschen oder eine Pfeffermühle – my mother the Spice Girl.
Meine Mutter hatte uns mit ihrem Feuerbestattungswunsch überrascht. Kurz nach ihrem achtzigsten Geburtstag sagte sie: »Ich will keinen Sarg. Cremate me and bring me to the beach.«
Es war ein Jahr voller Überraschungen. Mit achtzig hatte sie angefangen, plötzlich Entscheidungen zu treffen, als ob sie neunundsiebzig Jahre darauf gewartet hätte. Wir waren baff. Catherine Evelyn Cassidy Tufts, geboren 1923, war eine Supermarktkassiererin, eine Ehefrau, eine Mutter und Stiefmutter. Sie hatte immer etwas für andere Leute getan und erwartete nicht viel – außer, dass sie vielleicht irgendwann sechs Richtige im Lotto hätte und alles endlich perfekt würde. Sie war nie demenzkrank, aber ihr ganzes Leben immer ein bisschen durcheinander.Mit achtzig fing sie an, Klartext zu sprechen: »Ich will nur Hummer essen.« – »Ich liebe Tom Cruise.« – »Ich will keinen Sarg. Cremate me and bring me to the beach.«
Sie wollte verbrannt und am Strand verstreut werden? Seit wann? Sie war im Wandel. Sie hatte
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