Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Titel: Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
meiner verkürzten Vogelperspektive schien sein Gesicht ganz von der zerfurchten Stirn und dem vorspringenden Kinn beherrscht zu werden. Er hatte einen breiten Brustkorb, mächtige Schultern und kräftige Muskeln. Er blätterte die Seiten von rückwärts nach vorn um, bis er zu den Stadtnachrichten von Los Angeles kam, in denen man alle aufregenden Einzelheiten über in L. A. verübte Verbrechen erfährt. Ich zog mich zurück, stieg wieder ins Bett und verbrachte die nächsten Minuten damit, durch das Oberlicht zu starren. Eine Schicht Dunkelblau, von weißen Wolken überlagert, hing über der Plexiglaskuppel. Unmöglich zu sagen, wie der Tag werden würde. Im Mai regnet es hier nur selten. Wahrscheinlich würden sich die Wolken auflösen, die Sonne würde scheinen, eine sanfte Brise wehen und alles so üppig grün sein wie immer. Vollkommenheit ist manchmal gar nicht leicht zu ertragen. Inzwischen konnte ich aber nicht den ganzen Tag hier liegen bleiben, auch wenn, wie ich zugeben muss, die Versuchung groß war.
    Wenn ich hinunterging, musste ich höflich sein, mich mit Dietz abgeben, mich auf Konversation über bis jetzt noch unbekannte Themen einlassen. Neue Beziehungen sind anstrengend, selbst solche, die nur von kurzer Dauer sind. Die Menschen glauben sich verpflichtet, alle langweiligen Einzelheiten ihres bisherigen Lebens auszutauschen. Schon der Gedanke daran belastete mich. Wir hatten das Thema auf der Fahrt hierher schon flüchtig berührt, aber keineswegs erschöpfend behandelt. Doch Scherz beiseite, vielleicht schaltete Dietz wieder das Radio ein — noch mehr Roy Orbison. Das hielt ich morgens fünf Minuten nach sechs nicht aus.
    Andererseits war dies mein Haus, und ich hatte Hunger. Warum also sollte ich nicht hinuntergehen und essen? Ich musste nicht mit ihm reden. Ich warf die Decke zurück und stand auf, hinkte ins Bad und putzte mir die Zähne. Mein Gesicht war noch immer eine Studie in Bunt, ein Regenbogen aus Verletzungen nach einem Schauer von Schlägen. Ich runzelte die Brauen und betrachtete mich eingehend. Die dunkelblaue Quetschung auf meiner Stirn spielte allmählich ins Graue, das Violett um meine Augen wurde heller, ging in ein unheimlich wirkendes Grün über. Ich habe Lidschatten im gleichen Farbton gesehen und frage mich immer wieder verblüfft, warum Frauen sich freiwillig so entstellen. Es heißt nichts anderes als »gestern Abend hab ich ein Veilchen verpasst bekommen«. Mein Haar war wie üblich vom Schlaf plattgedrückt. Ich hatte zwar am Abend geduscht, stellte mich aber jetzt noch einmal unter die Dusche, nicht wegen der Sauberkeit, sondern weil ich hoffte, meine Stimmung aufzuheitern. Bei der Vorstellung, mit Dietz unter einem Dach leben zu müssen, bekam ich einen Juckreiz auf der Haut.
    Nachdem ich Jeans und ein altes Sweatshirt angezogen hatte, warf ich meine schmutzigen Klamotten in den Wäschekorb, verstaute die leere Reisetasche im Schrank und machte das Bett. Dann ging ich hinunter. Dietz murmelte »guten Morgen«, ohne von der Sportseite aufzusehen. Ich schenkte mir Kaffee ein, schüttete Frühstücksflocken und Milch in eine Schüssel, schnappte mir die Witzseite und trug alles ins Wohnzimmer. Ich setzte mich, behielt die Schüssel in der Hand, löffelte zerstreut den Frühstücksbrei und las die Comics. Sie bringen mich zwar nie zum Fachen, doch ich lese sie trotzdem weiter, weil ich die Hoffnung nicht aufgeben will. Es ist tröstlich, wie gemächlich das Leben in einem Comic-Strip dahinfließt. Ich hatte die Zeitung vier Tage nicht zu Gesicht bekommen, aber es war kaum etwas passiert.
    Halb im Unterbewusstsein nahm ich wahr, dass Dietz die Haustür geöffnet hatte und ins Freie trat. Als ich gegessen hatte, spülte ich Schüssel und Löffel ab und legte beides aufs Abtropfbrett. Zögernd ging ich zur Haustür und schaute hinaus, fühlte mich wie eine ins Haus verbannte Katze, die entdeckt, dass die Tür versehentlich offen geblieben ist. Durfte ich hinaus?
    Das Dunkelblau des Himmels begann sich aufzulösen, aber der Hinterhof wirkte irgendwie ausgebleicht, wie nebelverhangen. Von Zeit zu Zeit blökte das Nebelhorn in der stillen Morgenluft wie ein Kalb, das seine Mutter verloren hatte. Der herbe Geruch von Meerwasser erfüllte den Hof. Manchmal erwarte ich beinahe, die Brandung draußen an der Straße gegen den Bordstein schlagen zu sehen.
    Dietz hockte bei den Blumenbeeten. Henry hatte im Vorjahr Rosen gepflanzt, die jetzt in voller Blüte standen: Sonia, Park

Weitere Kostenlose Bücher