Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist
Schreibtisch mit der Kunststoffplatte war leer, die Kissen der grauen Ledercouch von einem Kopf eingedellt. Als provisorisches Bett war die Couch ein bisschen zu kurz geraten, und ich sah, wo die Schuhe sich an einer Seitenlehne gewetzt hatten. Ein Bücherregal aus weißem Kunststoff war mit medizinischen Büchern voll gestopft. Die Topfpflanze war nicht echt, ein Schwedischer Efeu aus Papier mit eingerollten Ranken so steif wie Blumendraht. Die einzigen Bilder an der Wand sahen aus wie Reproduktionen der Anatomie von Gray. Ich selbst komme ganz gut ohne abgehäutete Arme und Beine aus. Die Vena Saphena und ihre Verzweigungen sahen wie eine Luftaufnahme des Autobahnnetzes von Los Angeles aus.
Irene schlüpfte aus dem Mantel und strich sich den Rock glatt. »Ich kann nicht glauben, dass es keine Formulare gibt, die auszufüllen sind. Sie müssen sie doch aufgenommen haben.«
»Aber Sie kennen doch Krankenhäuser. Jedes hat seine eigene Methode.«
»Clyde hat eine Mitteilung der Versicherung in der Brieftasche. Blue Cross, wenn ich mich recht erinnere. Obwohl ich nicht glaube, dass sie bezahlt ist.«
»Schicken Sie die Rechnung ans Pflegeheim«, sagte ich. »Die sind schließlich schuld.«
Einen Augenblick saßen wir schweigend da. Sind das die Gefühle, die einen bewegen, wenn man eine Familie hat? fragte ich mich. Geriatrische Krisen und langwierige Diskussionen darüber, was mit Oma passieren soll. Wir hörten Schritte im Flur, und der Doktor kam herein. Eigentlich erwartete ich die Angestellte aus der Aufnahme mit Clyde Gersh und Dietz im Schlepp, daher brauchte ich eine Sekunde, um den Gesichtsausdruck dieses Typen richtig einzuschätzen. Er war Anfang Dreißig, hatte karottenrotes Kraushaar und eine gesunde Gesichtsfarbe. Er trug ein unifarbenes Baumwollhemd in Krankenhausgrün mit V-Ausschnitt und kurzen Ärmeln, Baumwollhosen von derselben Farbe und plumpe Schuhe mit weichen Sohlen. Er hatte ein Stethoskop um den Hals und ein weißes Plastikschildchen mit seinem Namen auf der Hemdbrust: Warren Stackhouse, MD. Das rote Haar und die Sommersprossen gaben ihm zusammen mit dem Operationsanzug eine farbenfrohe Lebendigkeit — irgendwie wirkte er wie eine Figur aus einem Cartoon in Technicolor. Er roch nach Klebeband und Pfefferminzbonbons, und seine Hände sahen frisch geschrubbt aus. In einer Hand hatte er einen bräunlichen Ordner, der nur ein einziges Blatt enthielt. Er legte ihn auf den Schreibtisch und richtete die Kanten sauber aus.
»Mrs. Gersh? Ich bin Dr. Stackhouse.« Er und Irene gaben sich die Hand, dann lehnte er sich an den Schreibtisch. »Es tut mir Leid, aber wir haben sie verloren.«
»Ach, um Himmels willen!«, fauchte Irene. »Kann denn keiner richtig auf sie aufpassen?«
Oh-oh, dachte ich, Irene hat ihn missverstanden. »Ich glaube nicht, dass er es so gemeint hat«, sagte ich vor mich hin.
»Mrs. Grey hat einen Herzstillstand erlitten«, sagte er. »Es tut mir Leid. Wir haben alles Menschenmögliche getan, konnten sie aber nicht wiederbeleben.«
Irene wurde ganz still, ihr Gesicht leer, und als sie sprach, klang ihre Stimme fast verdrossen. »Wollen Sie damit sagen, sie ist tot? Aber das ist unmöglich. Sie kann nicht tot sein. Sie müssen sich geirrt haben. Clyde hat gesagt, sie sei nur leicht verletzt. Ein paar Schnitte und Blutergüsse. Ich habe gedacht, er hat mit Ihnen gesprochen.«
Ich beobachtete den Doktor und sah, dass er seine Worte sehr vorsichtig wählte. »Als man sie uns brachte, zeigte sie schon die Symptome einer Herzrhythmusstörung. Sie war verwirrt und desorientiert, litt an allgemeiner Erschöpfung und Stress. Eine Frau in ihrem Alter und in einem so geschwächten Gesundheitszustand...«
Irene begriff endlich und seufzte tief auf. »Oh, das arme, arme Ding!« Ihre Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Auf Hals und Wangen bildeten sich rote Flecken. Sie begann unkontrollierbar zu zittern wie ein Hund, der gebadet wird. Ich nahm ihre Hand.
Clyde tauchte auf der Schwelle auf. In seinen Augen las ich, dass man ihm gesagt hatte, was geschehen war. Die Angestellte in der Aufnahme hatte ihn wahrscheinlich sofort informiert, als er kam.
Irene wandte sich flehend an ihn. »Clyde — Mutter ist tot«, sagte sie. Sie streckte die Hände nach ihm aus, stand auf und warf sich ihm in die Arme. Er zog sie so eng an sich, dass sie förmlich in ihm aufzugehen schien. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, wie winzig sie war. Ich wandte mich ab,
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