Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist

Titel: Kinsey Millhone 07 - Hoher Einsatz - G wie Galgenfrist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
Vom Netzwerk:
habe ununterbrochen mit ihr geredet, ihr immer wieder versichert, es sei alles in Ordnung. Danach wurde sie ruhiger, und es schien ihr ganz gut zu gehen, bis wir hierher kamen. Ich weiß, man hat hier alles Menschenmögliche getan, um sie zu retten. Aber manchmal lassen sie wahrscheinlich einfach los und wollen nicht mehr...«
    Irenes Kinn begann zu zittern. Sie presste ein Taschentuch vor den Mund und flüsterte kopfschüttelnd: »Ich hatte ja keine Ahnung, dass sie im Sterben lag. Mein Gott, wenn wir uns nur beeilt hätten, wären wir vielleicht noch rechtzeitig gekommen...«
    Der Beamte trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich gehe ins Wartezimmer und schreibe meinen Bericht fertig. Soviel ich weiß, ist der Stellvertreter des Sheriffs jetzt draußen. Sobald Sie sich seinen Fragen gewachsen fühlen, wird er mit Ihnen reden wollen, weil er ein paar Informationen braucht.« Er ging hinaus und ließ die Tür offen.
    Gleich darauf kam Clyde herein. Er legte Irene den Arm um die Schultern und führte sie in die Aufnahme. Bevor die Tür sich schloss, erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf den Stellvertreter des Sheriffs, der sich mit seinem Kollegen von der Stadtpolizei unterhielt. Ich vermutete, dass die Stadtpolizei den Todesfall dem Büro des Coroners gemeldet hatte, da Agnes als vermisste Person geführt worden war und man über ihre letzten Stunden nicht das Geringste wusste. Der Coroner würde eine Untersuchung der Umstände, Art und Ursache ihres Todes anordnen. Sollte sie einem Mord zum Opfer gefallen sein, würde die Stadtpolizei die weiteren Ermittlungen übernehmen. Ich vermutete, Agnes’ Tod würde — in der Terminologie des Coroners — mit dem Vermerk »Ungeklärte Umstände« keine weitere Untersuchung nach sich ziehen, aber da musste man abwarten. Eine Autopsie würde wahrscheinlich auf jeden Fall durchgeführt werden.
    Allein mit der Leiche, hob ich eine Ecke des Lakens und griff nach Agnes’ kalter, starrer linker Hand. Die Fingerknöchel waren abgeschürft, zwei Nägel abgebrochen. Unter dem Nagel des Ringfingers und des kleinen Fingers klebte feste Erde. Die Angestellte aus der Aufnahme kam herein. Ich schob Agnes’ Hand wieder unter das Laken und drehte mich um. »Ja?«
    »Mr. Gersh lässt Ihnen ausrichten, dass er seine Frau zum Wagen bringt. Der andere Herr wartet.«
    »Was ist aus ihren Sachen geworden?«
    »Sie hatte nicht viel. Dr. Stackhouse hat die Kleidungsstücke für den Coroner beiseite gelegt. Und etwas anderes hat sie nicht bei sich gehabt, als sie eingeliefert wurde.«
    Ich schrieb eine kurze Nachricht für Dr. Palchak und bat sie, mich anzurufen. Den Zettel übergab ich der Aufnahmeschwester, als ich an ihrem Schreibtisch vorüberkam. Dietz wollte ein Taxi rufen, aber Clyde bestand darauf, uns nach Hause zu bringen. Irene war untröstlich und weinte während der ganzen Fahrt. Ich war dankbar, als Dietz meine Tür aufsperrte und ich endlich zu Hause in meinen vier Wänden war. Auf dem Rücksitz des Mercedes hatte seine Hand neben meiner Hand gelegen, und unsere kleinen Finger hatten sich auf eine Weise berührt, dass ich das Gefühl hatte, meine ganze linke Seite sei magnetisiert.

19

    Kaum war ich im Haus, lief ich sofort in meinen Schlafraum hinauf, zu müde, um noch höfliche Floskeln auszutauschen. »Wollen Sie ein Glas Wein?«, fragte er.
    Ich zögerte, blickte zu ihm zurück, mitten auf der Flucht erwischt. Mit einem Fuß stand ich auf der untersten Stufe, meine Hand ruhte auf dem geschwungenen Geländer der Wendeltreppe. »Ich glaube nicht. Nein. Vielen Dank.«
    Es folgte eine Pause; dann fragte er: »Sind Sie in Ordnung?«
    Wir redeten plötzlich miteinander, als habe jede Bemerkung einen versteckten Sinn. Sein Gesicht schien noch dasselbe zu sein, doch in seinen Augen war etwas Neues. In dem früher undurchdringlichen Blick stand jetzt eine Bitte, die er offenbar nicht aussprechen konnte. Wie die Flügel eines Ventilators wirbelte Sexualität die Luft durcheinander. Meine Erschöpfung war plötzlich wie weggeblasen. Alle Gefahr und alle Anspannung hatten sich in stummes Verlangen verwandelt. Ich spürte, wie es durch meine Kleider sickerte, über meine Beine rieselte: etwas Uraltes, etwas Dunkles, des Menschen einziges Mittel gegen den Tod. Die Hitze schien zwischen uns eine Brücke zu schlagen. Plötzlich war da etwas, das ich verstand: Dieser Mann war wie ich, war mein Zwilling, und ich erkannte, dass ich in ihm ein seltsames Spiegelbild meiner selbst sah

Weitere Kostenlose Bücher