Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
nächsten Tankstelle, die vielleicht eine Meile entfernt war. Es war sehr dunkel. Die Abstände zwischen den Straßenlampen waren groß, und sie spendeten nur trübes Licht. Das Gewitter war anscheinend irgendwo vor der Küste hängen geblieben, lauerte mit finsteren Wolken und zuckenden Blitzen. Der Wind fegte über den Sand, und in den Palmen knisterten welke Wedel. Ich nahm mir einen Moment Zeit, um mir klarzuwerden, wie ich mich fühlte, und stellte fest, daß ich in Anbetracht all der Aufregung recht gut in Form war. Einer der Vorteile körperlicher Fitneß ist es, daß man ohne große Anstrengung eine Meile zu Fuß gehen kann. Ich hatte Jeans an, ein kurzärmeliges Sweatshirt und meine Tennisschuhe, nicht gerade die ideale Ausrüstung zum Wandern, aber eine bessere als manche andere.
Es war eine dieser großen Tankstellen, die rund um die Uhr geöffnet sind, aber in der Nacht war nur ein Mann da. Natürlich konnte er seinen Platz nicht verlassen. Ich ließ mir eine Handvoll Wechselgeld geben und rief von der öffentlichen Telefonzelle an der Ecke des Parkplatzes aus die AAA an. Ich gab den Leuten meine Nummer an und erklärte ihnen, wo ich war. Während ich dann auf den Abschleppwagen wartete, rief ich Renata an und berichtete ihr, was sich ereignet hatte. Sie schien mir unseren kleinen Zusammenstoß auf dem Bootsdeck nicht nachzutragen. Sie sagte, Jaffe sei noch nicht angekommen, aber sie würde sich in den Wagen setzen und die Strecke zwischen ihrem Haus und der Uferstraße, auf der ich ihn zuletzt gesehen hatte, einmal abfahren.
Der Abschlepper trudelte eine Dreiviertelstunde später ein. Ich setzte mich zum Fahrer in die Kabine und dirigierte ihn zu meinem Wagen. Er war ein Mann in den Vierzigern, der anscheinend sein Leben lang nichts anderes getan hatte, als Autos abzuschleppen, und einen unerschöpflichen Fundus an guten Ratschlägen besaß. Als wir bei meinem VW ankamen, stieg er aus, zog einmal kräftig seine Hose hoch und ging, die Hände in die Hüften gestemmt, um den Wagen herum. Dann blieb er stehen und spie aus. »Was ist hier eigentlich los?« Möglich, daß er wegen des zersplitterten Rückfensters fragte, aber das ignorierte ich erst einmal.
»Ich habe keine Ahnung. Ich tuckerte mit ungefähr vierzig die Straße runter, da gab der Wagen plötzlich seinen Geist auf.«
Er deutete aufs Wagendach, in dem eine großkalibrige Kugel ein Loch von der Größe eines Zehncentstücks hinterlassen hatte. »Und was ist das?«
»Oh. Sie meinen das?« Mit zusammengekniffenen Augen beugte ich mich vor.
Das Loch sah aus wie ein schwarzer Tupfen auf dem hellblauen Lack. Er schob eine Fingerspitze hinein. »Das sieht mir aus wie ein Einschußloch.«
»Mein Gott, ja, es sieht wirklich so aus, nicht?«
Wir umrundeten den Wagen noch einmal, und an allen beschädigten Stellen, an denen wir vorbeikamen, tat ich so konsterniert wie er. Er fragte mich gründlich aus, aber ich wehrte seine Fragen ab. Der Kerl war schließlich LKW-Fahrer und kein Polizeibeamter. Und ich stand nicht unter Eid.
Schließlich setzte er sich kopfschüttelnd ans Steuer und versuchte, den Wagen zu starten. Ich vermute, es hätte ihm tiefe Befriedigung verschafft, wenn der Motor auf Anhieb angesprungen wäre. Er gehörte meinem Gefühl nach zu den Männern, die nichts dagegen haben, wenn Frauen dumm dastehen. Aber er hatte Pech. Er stieg wieder aus, ging nach hinten und guckte. Er knurrte vor sich hin, fummelte hier und fummelte dort und versuchte erneut zu starten. Wieder ohne Erfolg. Er schleppte den VW zur Tankstelle und zuckelte dann mit einem letzten argwöhnischen Blick zurück und einem Kopfschütteln davon. Frauen! Ich redete mit dem Tankwart, der mir versicherte, daß der Mechaniker punkt sieben am nächsten Morgen kommen würde.
Inzwischen war es nach Mitternacht. Ich war nicht nur total erledigt, sondern auch ohne fahrbaren Untersatz. Ich hätte Henry anrufen können. Er wäre sofort in sein Auto gesprungen, um mich zu holen. Aber mir graute einfach vor der Fahrt; noch eine Runde in dem eintönigen Rennen, das ich zwischen Santa Teresa und Perdido fuhr. Zum Glück fehlte es in dieser Gegend nicht an Motels. Ich entdeckte eines gleich auf der anderen Seite des Freeway, zu Fuß leicht zu erreichen, und machte mich auf den Weg über die Überführung. Um für solche Notfälle gewappnet zu sein, habe ich in meiner Handtasche immer eine Zahnbürste, Zahnpasta und ein frisches Höschen.
Das Motel hatte noch ein einziges freies
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