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Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Titel: Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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ich doch nicht. Erst erzählt er mir dauernd, daß es in unserem Rechtssystem keine Gerechtigkeit gibt, und dann erklärt er mir, wir müßten uns stellen. >Nie im Leben, Dad<, hab’ ich gesagt. >Das mach’ ich bestimmt nicht, und du kannst mich nicht dazu zwingen.<«
    »Was hat er darauf gesagt?«
    »Gar nichts.« Er warf das Sockenknäuel wieder an die Wand und fing es auf, als es zurückkam.
    »Glauben Sie, daß er einfach ohne Sie abgehauen ist?«
    »Wieso, wenn er sich doch stellen wollte?«
    »Vielleicht hat er’s mit der Angst zu tun bekommen.«
    »Ach, und da hat er mich hier sitzenlassen?« Sein Blick drückte tiefe Ungläubigkeit aus.
    »Brian, ich sag’ das nicht gern, aber Ihr Vater ist nicht gerade bekannt dafür, daß er bis zum bitteren Ende durchhält. Er wird leicht nervös, und dann läuft er davon.«
    »Er würde mich nicht im Stich lassen«, sagte er trotzig. Er warf die Socken in die Luft, beugte sich vor und fing das Knäuel hinter seinem Rücken. Ich sah den Titel des Buchs vor mir: >Sockentricks: 101 Arten, sich mit Unterwäsche die Zeit zu vertreiben<.
    »Ich finde, Sie sollten sich stellen.«
    »Das tue ich, wenn er kommt.«
    »Wieso kann ich das nicht glauben? Brian, ich möchte mich weiß Gott nicht wichtig machen, aber ich habe hier eine Verantwortung. Sie werden von der Polizei gesucht. Wenn ich Sie nicht ausliefere, mache ich mich der Beihilfe schuldig. Das könnte mich meine Zulassung kosten.«
    Blitzartig sprang er auf, packte mich beim Hemd, riß mich vom Bett, die geballte Faust zum Schlag gezückt. Unsere Gesichter waren plötzlich keine fünfzehn Zentimeter voneinander entfernt. Wie die Liebenden im Film. Alles Nette an dem Jungen war spurlos verschwunden. Ein anderer starrte mich an, ein Mensch hinter einem Menschen. Wer hätte ahnen können, daß sich hinter Brians blauäugiger Schönheit dieser gemeine >andere< versteckte? Nicht einmal die Stimme war die seine: ein leises, heiseres Flüstern.
    »Paß gut auf, du Luder. Ich werde dir zeigen, was Beihilfe ist. Du willst mich den Bullen übergeben, hm? Das versuch mal. Du wirst gar nicht dazu kommen, mich anzurühren, weil ich dich nämlich blitzschnell umbringe, kapiert?«
    Ich verhielt mich ganz still, wagte kaum zu atmen. Ich machte meinen Körper unsichtbar, beamte mich in andere Regionen. Er war außer sich vor Wut, und ich wußte, er würde zuschlagen, wenn ich ihn reizte. Er keuchte krampfartig. Er war derjenige, der die Frau getötet hatte, als die vier geflohen waren. Ich hätte Geld darauf gewettet. So einem brauchte man nur eine Waffe zu geben, ein Opfer, etwas, an dem er seine Wut auslassen konnte, und er würde angreifen.
    Ich sagte: »Okay, okay. Schlagen Sie mich nicht. Schlagen Sie nicht zu.«
    Ich hätte geglaubt, daß dieser Ansturm von Gefühlen ihn außergewöhnlich aufnahmebereit machen würde. Statt dessen schien die Emotion seine Sinne stumpf zu machen, seine Wahrnehmung zu trüben. Er neigte den Kopf ein klein wenig nach hinten und faßte mich stirnrunzelnd ins Auge. »Was?« Er wirkte benommen, als hätte sein Gehör ihm plötzlich den Dienst versagt.
    Schließlich jedoch erreichte ihn meine Botschaft, durch ein Labyrinth von hochgradig geladenen Neuronen.
    »Ich möchte nur, daß Sie in Sicherheit sind, wenn Ihr Vater zurückkommt.«
    »In Sicherheit.« Die Vorstellung schien ihm fremd zu sein. Er fröstelte, als die Spannung in seinem Körper nachließ. Er löste den Griff, wich zurück und sank schwer atmend in den Sessel. »Mein Gott. Was ist mit mir los? Mein Gott.«
    »Soll ich mit Ihnen gehen?« Mein Hemd war dort, wo er es mit der Faust gepackt hatte, permanent plissiert.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Ich kann Ihre Mutter anrufen.«
    Er senkte den Kopf und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar. »Sie will ich nicht. Ich will ihn.« Die Stimme gehörte dem Brian Jaffe, den ich kannte. Er wischte sich das Gesicht mit seinem Ärmel ab. Ich glaubte, daß er den Tränen nahe war, aber seine Augen blieben trocken — leer — das Blau kalt wie Eis. Ich wartete und hoffte, er würde noch etwas sagen. Allmählich wurde sein Atem normal, und er sah wieder aus wie er selbst.
    »Vor Gericht sieht es besser aus, wenn Sie sich freiwillig gestellt haben«, bemerkte ich.
    »Weshalb sollte ich das tun? Ich bin entlassen worden.« Der Ton war gereizt. Der andere Brian war verschwunden, hatte sich wie ein Aal in die dunklen Spalten seiner Unterwasserhöhle verzogen. Dieser Brian war nur der Junge, der meinte,

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