Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
alles müßte nach seinem Kopf gehen. Der Junge, der auf dem Spielplatz wütend zu schreien pflegte: »Du hast geschummelt«, wenn er ein Spiel verlor, in Wirklichkeit aber selbst der Schummler war.
»Aber Brian. Sie wissen doch, daß das nicht stimmt. Ich weiß nicht, wer den Computer manipuliert hat, aber Sie dürften nicht auf freiem Fuß sein. Sie stehen unter Mordanklage.«
»Ich habe niemanden umgebracht.« Empört. Damit meinte er wahrscheinlich, daß er sie nicht hatte töten wollen, als er die Pistole auf sie gerichtet hatte. Und weshalb hätte er sich hinterher schuldig fühlen sollen, da es doch nicht seine Schuld war? Blöde Gans. Sie hätte eben die Klappe halten sollen, als er den Autoschlüssel verlangt hatte. Aber nein, sie mußte mit ihm streiten. Frauen mußten dauernd streiten.
»Dann ist es ja gut«, sagte ich. »Aber jetzt ist erst mal der Sheriff auf dem Weg hierher, um Sie abzuholen.«
Er war erstaunt über den Verrat, und der Blick, mit dem er mich ansah, war voller Entrüstung. »Sie haben die Bullen geholt? Warum haben Sie das getan?«
»Weil ich nicht glaubte, daß Sie sich stellen würden.«
»Weshalb sollte ich?«
»Sehen Sie, was ich meine? Sie bilden sich ein, daß die Spielregeln für Sie nicht gelten. Aber Sie täuschen sich.«
»Wenn nur Sie sich nicht täuschen. Ich brauche mir diesen Scheiß nicht von Ihnen gefallen zu lassen.« Er stand aus seinem Sessel auf, nahm seine Brieftasche, die auf dem Fernsehapparat lag, ging zur Tür und machte auf. Ein Sheriff’s Deputy, ein Weißer, die Hand erhoben, um zu klopfen, stand vor ihm. Er wirbelte herum und rannte zur Schiebetür. Dort, auf der Terrasse erschien ein zweiter Deputy, ein Schwarzer. Wütend schleuderte Brian seine Brieftasche zu Boden, so heftig, daß sie aufsprang wie ein Ball. Der erste Deputy griff nach ihm. Brian stieß seinen Arm weg. »Lassen Sie mich los!«
»Ruhig Blut, mein Junge«, sagte der Deputy. »Ich möchte Ihnen nicht weh tun.«
Brian wich schwer atmend zurück. Sein Blick flog von Gesicht zu Gesicht. Er war vornüber gebeugt und hielt die Arme ausgestreckt, als wollte er angreifende Tiere abwehren. Beide Beamte waren groß und kräftig und erfahren, der eine, der Weiße, Ende Vierzig, der andere vielleicht fünfunddreißig. Ich hätte mich mit keinem von beiden anlegen wollen.
Der zweite Deputy hatte die Hand an seiner Pistole, aber er zog sie nicht. Dieser Tage endete eine Konfrontation mit der Polizei immer öfter mit dem Tod. Die beiden Beamten tauschten einen Blick, und mir begann angesichts drohender Gewalt das Herz wie wild zu klopfen. Wir drei standen unbewegt und warteten.
Der erste Deputy fuhr mit gesenkter Stimme zu sprechen fort. »Es ist ja gut. Es ist alles okay. Wir brauchen nur ruhig zu bleiben, dann geht alles in Ordnung.«
Unsicherheit flackerte in Brians Blick. Sein Atem wurde langsamer, und er fand seine Fassung wieder. Er richtete sich auf. Ich glaubte nicht, daß es vorbei sei, aber die Spannung löste sich. Brian versuchte ein entschuldigendes Lächeln und ließ sich ohne Widerstand Handschellen anlegen. Meinem Blick wich er aus, und mir war das recht. Es hatte etwas Peinliches, zusehen zu müssen, wie er sich unterwarf. »Blöde Ärsche«, murmelte er, aber die Beamten ignorierten ihn. Jeder muß das Gesicht wahren. Das ist kein Verbrechen.
Dana kam ins Gefängnis, während Brian noch in der Aufnahme war. Sie trug ein todschickes graues Leinenkostüm, das erste Mal, daß ich sie nicht in Jeans sah. Es war elf Uhr abends, und ich stand wieder mal mit einem Becher scheußlich schmeckenden Kaffees herum, als ich das Knallen ihrer hohen Absätze im Korridor hörte. Ein Blick genügte mir, und ich wußte, daß sie fuchsteufelswild war; nicht auf Brian oder die Polizei, sondern auf mich. Ich selbst hatte Dana angerufen, weil ich fand, sie müßte von der Verhaftung ihres Sohnes benachrichtigt werden. Ich war nicht in Stimmung, mich von ihr anfauchen zu lassen, aber es war klar, daß sie die Absicht hatte mich herunterzuputzen.
»Von dem Moment an, als ich Sie zum erstenmal gesehen habe, habe ich nichts als Ärger gehabt«, zischte sie wütend. Sie trug das Haar straff zurückgekämmt und im Nacken zu einem Knoten gedreht. Nicht ein Härchen tanzte aus der Reihe. Blütenweiße Bluse, silberne Ohrringe, die Augen schwarz umrandet.
»Möchten Sie die Geschichte nicht hören?«
»Nein, ich möchte die Geschichte nicht hören. Ich möchte Ihnen eine erzählen«, giftete sie.
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