Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
richtig. Meine Klasse war die letzte, die noch die Abschlußexamen gemacht hat. Wir waren nur sechzehn. Danach war’s aus«, sagte er. In seinem Lächeln mischten sich Stolz und Wehmut. »Woher kennen Sie die Schule? Sie müssen ein gutes Auge haben? Die meisten Schulringe sehen gleich aus.«
»Ich habe erst kürzlich den Ring von jemandem gesehen, der auch von der Cottonwood Academy abgegangen ist.«
»Tatsächlich? Wer ist das? Wir sind immer noch eine ziemlich eingeschworene Gemeinde.«
»Wendell Jaffe.«
Sein Blick begegnete flüchtig dem meinen. Dann sah Tiller weg. Er setzte sich anders hin. »Ach ja, Wendell war auch auf der Schule«, sagte er, als sei ihm das eben erst eingefallen. »Wollen Sie wirklich keinen Kaffee?«
»Sie waren es, nicht wahr?«
»Ich? Was?«
»Brians Entlassung«, sagte ich.
Tiller lachte, ho, ho, ho, mit gutmütiger Erheiterung, aber es klang nicht echt. »Hey, tut mir leid. Aber ich war’s nicht. Ich wüßte schon gar nicht, wie ich das anstellen sollte. Mich braucht man nur vor einen Computer zu setzen, und schon fällt mein IQ um ungefähr fünfzehn Prozent.«
»Tun Sie doch nicht so. Also, was steckt dahinter? Ich verrate nichts. Mich juckt das doch nicht. Der Junge ist wieder da. Ich schwör’s Ihnen, ich lasse kein Wort verlauten.« Danach hielt ich den Mund, und ließ das Schweigen wachsen. Im Grunde war er ein ehrlicher Mensch, vielleicht eines gelegentlichen Gesetzesverstoßes fähig, aber mit schlechtem Gewissen und unfähig, seine Schuld zu leugnen, wenn man ihn damit konfrontierte. Seine Kollegen lieben solche Typen, weil sie in ihrem Bedürfnis sich zu entlasten mit dem Geständnis nicht lange auf sich warten lassen.
Er sagte: »Nein wirklich, da sind Sie bei mir an der falschen Adresse.« Er ließ ein paarmal seinen Kopf kreisen, um die Spannung im Nacken zu lindern. Doch mir fiel auf, daß er das Gespräch nicht beendet hatte. Ich stocherte ein wenig. »Haben Sie Brian beim erstenmal geholfen, als er aus dem Jugendhaus ausbrach?«
Sein Gesicht wurde ausdruckslos und sein Ton offiziös. »Ich glaube nicht, daß diese Art der Unterhaltung etwas bringt.«
»Na schön. Vergessen wir den ersten Fluchtversuch und reden wir nur vom zweiten. Sie müssen Jaffe einen Riesengefallen geschuldet haben, wenn Sie sogar bereit waren, Ihren Job zu riskieren.«
»Ich finde, das reicht. Ich schlage vor, wir lassen es dabei bewenden.«
Es mußte sich um den Totschlag handeln, den Jaffe auf sich genommen hatte. Tiller wäre mit einer Verurteilung wegen eines solchen Delikts niemals bei der Polizei angenommen worden.
»Tiller, ich habe die Geschichte von dem Totschlag gehört. Bei mir sind Sie sicher. Sie können sich darauf verlassen. Ich möchte nur wissen, was passiert ist. Warum hat Jaffe die Sache auf sich genommen?«
»Ich schulde Ihnen keinerlei Erklärungen.«
»Das habe ich auch nie behauptet. Ich frage um meinetwillen. Das ist nichts Amtliches. Es ist einfach eine Information.«
Er schwieg lange, den Blick zum Schreibtisch gesenkt.
»Tiller, bitte! Ich will ja gar keine Einzelheiten wissen. Ich verstehe Ihr Zögern. Nur in groben Zügen«, sagte ich.
Er seufzte tief, und als er schließlich sprach, war seine Stimme so leise, daß ich mich anstrengen mußte, um ihn zu verstehen. »Ich kann, glaube ich, gar nicht sagen, warum er es getan hat. Wir waren jung. Beste Freunde. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig oder so. Er war bereits zu der Überzeugung gelangt, daß das Gesetz korrupt ist, und hatte beschlossen, die Zulassungsprüfung als Anwalt nicht zu machen. Ich wollte mein Leben lang nichts anderes als Polizeibeamter werden. Dann passierte diese Geschichte. Das Mädchen starb durch einen Unglücksfall, aber es war alles meine Schuld. Er war zufällig zur Stelle und nahm die Schuld auf sich. Er war unschuldig. Er wußte es, und ich wußte es. Er hat für mich den Kopf hingehalten, das ist alles. Ich fand das eine unglaubliche Geste.«
Das alles klang ein wenig schwach, aber wer weiß, warum Menschen etwas tun? Ein gewisser ernster Idealismus erfaßt uns in der Jugend. Darum sind so viele Freiwillige achtzehn und tot.
»Aber im Grunde hatte er doch nichts gegen Sie in der Hand. Diese Sache muß längst verjährt sein. Dann hätte nur sein Wort gegen Ihres gestanden. Er behauptet, Sie hätten etwas getan. Sie behaupten, Sie hätten es nicht getan. Er war bereits verurteilt worden. Ich verstehe nicht, wo da nach so langer Zeit noch die Möglichkeit zu einer
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