Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
ich.
»Wie haben Sie davon gehört?«
»Renata kam mittags zu mir ins Büro«, berichtete ich. »Sie sagte, er sei verschwunden. Sie fürchtete, er würde versuchen zu fliehen. Ihr eigenes Boot lag am Steg, da dachte sie an Ihres.«
»Wie ist er nur reingekommen? Das verstehe ich nicht. Gleich nachdem ich das Boot gekauft hatte, habe ich alle Schlösser austauschen lassen.«
»Vielleicht ist er eingebrochen. Vielleicht hat er das Schloß geknackt. Wie dem auch sei, als wir hier ankamen, war das Boot schon weg.«
Er sah mich fragend an. »Ist das die Frau? Renata? Wie heißt sie mit Nachnamen?«
»Warum?«
»Ich würde gern mit ihr reden. Sie weiß vielleicht mehr, als sie sagt.«
»Ja, das kann sein«, meinte ich. Ich dachte an die Schießerei am Abend zuvor und fragte mich, ob Carl nachweisen konnte, wo er um diese Zeit gewesen war. »Wann sind Sie zurückgekommen? Ich hörte, Sie waren gestern abend außerhalb. Aber niemand schien zu wissen, wo.«
»Das hätte auch nichts genützt. Ich war nur schwer zu erreichen. Ich hatte in San Luis Obispo mehrere Termine. Übernachtet habe ich im Best Western und bin schon vor acht heute morgen dort wieder weg. Ich hatte dann den ganzen Tag noch Besprechungen da oben und bin gegen fünf wieder Richtung Heimat gefahren.«
»Das muß eine böse Überraschung gewesen sein.«
»Das kann man wohl sagen. Ich kann es nicht glauben, daß das Boot wirklich weg ist.«
Es schien, als ob er in den letzten zwei Tagen tatsächlich pausenlos beschäftigt gewesen wäre oder sein Alibi gut vorbereitet hätte.
»Und was tun Sie jetzt? Wo werden Sie Unterkommen?«
»Ich werde es mal da drüben versuchen«, antwortete er mit einer Kopfbewegung in Richtung zu den Motels am Cabana Boulevard. »Und wie ist es bei Ihnen gelaufen? Sie haben ihn wohl nicht erwischt, wie?«
»Doch, ich bin ihm gestern abend bei Michael begegnet. Ich hoffte, mit ihm reden zu können, aber wir wurden getrennt, und danach habe ich ihn nicht wiedergesehen. Wie ich hörte, wollte er sich eigentlich mit Ihnen treffen.«
»Ich mußte ihm in letzter Minute absagen, als diese andere Geschichte mir dazwischenkam.«
»Sie haben ihn also überhaupt nicht gesehen?«
»Nein, wir haben nur miteinander telefoniert.«
»Was wollte er von Ihnen? Sagte er das?«
»Nein. Kein Wort.«
»Mir hat er erzählt, Sie hätten etwas in Besitz, was ihm gehört.«
»Das hat er gesagt? Wie sonderbar. Ich möchte wissen, was er damit gemeint hat.« Er sah auf seine Uhr. »Oh, so spät schon! Ich mache mich besser auf den Weg, ehe die Hotelzimmer alle weg sind.«
Ich trat vom Wagen weg. »Dann will ich Sie nicht aufhalten«, sagte ich. »Wenn Sie von der Lord hören, geben Sie mir dann Bescheid?«
»Natürlich.«
Donnernd sprang der Sportwagen an. Carl fuhr aus der Lücke und hielt neben dem Kiosk, um der Frau seinen Parkschein zu geben.
Ich ging zur Imbißbude. Als ich noch einmal zurückblickte, sah ich, daß er seinen Rückspiegel so eingestellt hatte, daß er mich im Auge behalten konnte. Ich hatte den starken Verdacht, daß er mich kräftig verschaukelt hatte. Irgend etwas stimmte nicht. Ich wußte nur nicht, was es war.
22
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Als ich das Strandviertel am Rand von Perdido erreichte, in dem die Motels stehen, hatte sich über dem Ozean ein geisterhafter graugrüner Dunst ausgebreitet. Noch während ich hinsah, wurde durch eine merkwürdige Brechung des schwindenden Sonnenlichts das flüchtige Bild einer Insel, die grün und unerreichbar über dem Wasser schwebte, heraufbeschworen. Sie hatte etwas Jenseitiges in ihrer Verschleierung. Dann war der Moment verflogen, und das Bild zerstob im Dunst. Die Luft war heiß und still, ungewöhnlich feucht für das Küstengebiet Kaliforniens. Heute abend würden die Leute in dieser Gegend in ihren Garagen nach dem elektrischen Ventilator vom letzten Sommer suchen müssen. Statt zu schlafen, würden sie sich schwitzend und ohne Hoffnung auf Erfrischung in zerwühlten Laken wälzen.
Ich parkte in einer Seitengasse der Hauptdurchgangsstraße. Die Lichter der Motels, die inzwischen eingeschaltet worden waren, verbreiteten ein künstliches Tageslicht; blinkende Neonreklamen in Blau und Grün, die den Durchreisenden zum Bleiben aufforderten. Die Bürgersteige waren voller Menschen, alle sommerlich gekleidet, auf der Suche nach Abkühlung. Die Eisbuden würden wahrscheinlich Rekordverkäufe verzeichnen. Autos krochen auf der Suche nach Parkplätzen in endlosem Strom durch die Straßen.
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