Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
ich Wendell sah, hat er dauernd in Zeitungen geblättert, jede einzelne Seite durchgesehen. Könnte es nicht sein, daß er von Brians Fluchtversuch wußte? Daß er auf ihn gewartet hat? Vielleicht hat er dem Jungen sogar geholfen, den Ausbruch einzufädeln.«
Mac brummte skeptisch. »Das ist ziemlich weit hergeholt. Wir wollen doch lieber keine übereilten Schlüsse ziehen, solange wir nicht mehr wissen.«
»Ja, sicher, da hast du recht. Aber es würde passen. Ich leg’s vorläufig mal ad acta, aber später prüfe ich’s vielleicht doch noch nach.«
»Hast du eine Ahnung, wohin Jaffe verschwunden ist?«
»Ich habe mich in meinem rudimentären Spanisch mit dem Mann am Empfang unterhalten, aber dabei kam nicht viel mehr heraus als ein spöttisches Grinsen. Wenn du meine Meinung wissen willst, ich glaube, es besteht eine gute Chance, daß er hierher zurückkommt.«
Ich konnte praktisch hören, wie Mac ungläubig die Augen zusammenkniff. »Nie im Leben. Du glaubst im Ernst, er würde es wagen, einen Fuß in diesen Staat zu setzen? Da müßte er wirklich verrückt sein.«
»Sicher, es wäre riskant, aber vergiß nicht, daß sein Sohn in der Klemme sitzt. Versetz dich in seine Lage. Würdest du es nicht tun?«
Schweigen antwortete mir. Macs Kinder waren erwachsen, aber ich wußte, daß er sich immer noch für sie verantwortlich fühlte. »Woher soll er denn gewußt haben, was los war?«
»Das weiß ich auch nicht, Mac. Es ist doch möglich, daß er den Kontakt aufrechterhalten hat. Wir haben keine Ahnung, was er in den vergangenen Jahren getrieben hat. Vielleicht hat er noch Kontakte hier in der Gegend. Es würde sich auf jeden Fall lohnen, der Frage nachzugehen, wenn wir versuchen wollen, ihm auf die Spur zu kommen.«
»Und wie sieht dein Plan aus?« warf Mac ein. »Du hast doch sicher schon einen Plan.«
»Ja, also ich bin der Meinung, wir sollten herausfinden, wann der Junge aus Mexicali zurückgebracht wird. Ich kann mir nicht vorstellen, daß übers Wochenende viel passiert. Am Montag kann ich mit einem der Beamten des County-Gefängnisses sprechen. Vielleicht können wir dort Jaffes Fährte aufnehmen.«
»Das halte ich für höchst unwahrscheinlich.«
»Es ist schon Unwahrscheinlicheres passiert. Zum Beispiel, daß Dick Mills ihn überhaupt gesichtet hat.«
»Das stimmt«, meinte er widerwillig.
»Außerdem sollten wir meiner Meinung nach mit der hiesigen Polizei sprechen. Die hat die Mittel, die mir nicht zur Verfügung stehen.«
Ich spürte sein Zögern. »Ich halte es für ein bißchen früh, die Polizei hinzuzuziehen, aber ich überlasse die Entscheidung dir. Gegen die Hilfe der Polizei hätte ich ja nichts, aber auf keinen Fall möchte ich ihn mißtrauisch machen. Vorausgesetzt, er zeigt sich hier überhaupt.«
»Ich werde mich auf jeden Fall mit ehemaligen Freunden von ihm in Verbindung setzen müssen. Das Risiko, daß jemand ihn warnt, müssen wir auf uns nehmen.«
»Und du glaubst, seine Kumpel werden mit uns zusammenarbeiten?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß er damals eine Menge Leute reingelegt hat. Und da gibt es doch gewiß einige, die nichts dagegen hätten, wenn er im Knast landet.«
»Sollte man meinen, ja«, sagte Mac.
»Okay, wir sprechen uns am Montagmorgen. Laß dir inzwischen keine grauen Haare wachsen.«
Macs Lachen klang nicht heiter. »Hoffentlich bekommt Gordon Titus keinen Wind von der Sache.«
»Du hast doch gesagt, du würdest das schon hinkriegen.«
»Mir schwebte eine Verhaftung vor. Und ein Haufen öffentliche Anerkennung für dich.«
»Gib die Hoffnung nicht auf. Vielleicht kommt’s ja tatsächlich noch so.«
Die folgenden zwei Tage verbrachte ich im Bett, genoß dank der Erkältung ein faules, völlig unproduktives Wochenende. Ich liebe dieses Alleinsein, wenn man krank ist, die Verwöhnung mit heißem Tee mit Honig, die Tomatensuppe aus der Dose mit klebrigem Käsetoast dazu. Auf meinem Nachttisch hatte ich eine Packung Kleenex stehen, und der Papierkorb neben dem Bett war bald bis zum Rand mit einem schäumenden Soufflé gebrauchter Papiertücher gefüllt. Eine der wenigen konkreten Erinnerungen, die ich an meine Mutter habe, ist, daß sie mir immer die Brust mit Wicks VapoRub eingerieben und dann einen rosa Waschlappen mit Röschenmuster darauf gelegt hat, der mit einer Sicherheitsnadel an meiner Pyjamajacke befestigt wurde. Von der Hitze meines Körpers angeregt, zogen bald Wolken berauschender Dämpfe in meine Nasengänge, während die Salbe auf
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