Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
die Staaten zurückgeschickt werden, sobald der Sheriff ein paar Leute zur Verfügung hatte, die nach Mexiko fahren konnten. Der vierte Flüchtige, ein Vierzehnjähriger, lag immer noch in kritischer Verfassung in einem Krankenhaus in Mexiko. Seinen Namen hatte man der lokalen Presse wegen seines Alters nicht genannt. In der spanischen Zeitung war, wie ich mich erinnerte, sein Name als Ricardo Guevara angegeben worden. Beide Mordopfer waren amerikanische Staatsbürger gewesen, und es war möglich, daß den federales daran lag, die Verantwortung abzugeben. Es war auch möglich, daß ein dickes Bündel Bargeld in aller Verschwiegenheit den Besitzer gewechselt hatte. Wie auch immer, die Flüchtigen konnten von Glück sagen, daß sie nicht auf Dauer dort unten in Gewahrsam bleiben mußten. Der Zeitung zufolge hatte Brian Jaffe kurz nach seiner Gefangennahme seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert, und das hieß, daß er nach seiner Rückkehr ins Perdido-County-Gefängnis wie ein Erwachsener behandelt werden würde. Ich holte mir eine Schere, schnitt sämtliche Artikel aus und legte sie auf die Seite, um sie für meine Akte im Büro mitzunehmen.
Ich sah auf den Wecker auf meinem Nachttisch. Es war erst Viertel vor zehn. Ich griff zum Telefon und rief Mac Voorhies zu Hause an.
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»Hallo, ich bin’s, Kinsey«, sagte ich, als Mac sich meldete.
»Du klingst so fremd. Von wo rufst du an?«
»Von zu Hause«, antwortete ich. »Ich hab’ eine Erkältung und fühle mich sterbenseiend.«
»So ein Pech. Trotzdem willkommen zu Hause. Ich hatte keine Ahnung, wann du kommen würdest.«
»Ich bin vor einer Dreiviertelstunde zur Tür herein marschiert«, sagte ich. »Inzwischen habe ich die Zeitung gelesen und sehe, daß es hier ganz schön aufregend zugegangen ist, während ich weg war.«
»Ja, ist das zu glauben? Ich frage mich, was, zum Teufel, da vorgeht. Seit zwei, drei Jahren habe ich nicht ein Wort über diese Familie gehört, und jetzt plötzlich taucht der Name überall auf.«
»Tja, und jetzt gleich noch einmal. Wir haben einen Treffer, Mac. Ich habe Jaffe genau dort entdeckt, wo Dick Mills ihn gesehen hat.«
»Und du bist sicher, daß er es ist?«
»Nein, sicher bin ich natürlich nicht, Mac. Ich habe den Mann ja nie zuvor mit eigenen Augen gesehen, aber wenn man sich auf die Fotografien verläßt, kann dieser Mann sehr gut der sein, den wir suchen. Er ist Amerikaner. Er ist im richtigen Alter. Er benutzt nicht den Namen Jaffe, sondern heißt jetzt Dean DeWitt Huff. Die Größe stimmt, und das Gewicht kommt auch hin. Er ist ein bißchen kräftiger, aber das ist wahrscheinlich ganz natürlich. Er reist mit einer Frau, und die beiden haben sich völlig isoliert.« 1
»Klingt ein bißchen dünn.«
»Natürlich ist es dünn. Ich konnte ja nicht gut auf ihn zugehen , und mich vorstellen.«
»Wie sicher bist du?« |
»Wenn wir das Alter und ein paar kosmetische Korrekturen berücksichtigen, würde ich sagen, neunzig Prozent. Ich habe ver- ] sucht, ein paar Aufnahmen zu machen, aber er wurde bei jedem bißchen Aufmerksamkeit gleich mißtrauisch. Ich mußte mich sehr im Hintergrund halten«, erklärte ich. »Weshalb hat Brian Jaffe übrigens im Knast gesessen, ist das bekannt?«
»Soviel ich weiß, wegen Einbruchs. Wahrscheinlich nichts Raffiniertes, sonst hätte man ihn wohl nicht geschnappt«, antwortete Mac. »Was ist also mit Wendell Jaffe? Wo ist er jetzt?«
»Das ist eine gute Frage.«
»Er ist dir entwischt«, konstatierte Mac.
»Mehr oder weniger. Er und die Frau sind mitten in der Nacht auf und davon, aber du brauchst nicht gleich zu schreien. Ich habe nämlich nach ihrem Verschwinden in ihrem Zimmer was entdeckt — eine mexikanische Zeitung mit einem Bericht über Brian Jaffes Festnahme. Jaffe muß den Artikel in der Nachtausgabe gesehen haben. Die beiden sind nämlich ganz normal zum Abendessen gegangen, aber dann kamen sie plötzlich viel zu früh zurück, beide sehr erregt. Und heute morgen waren sie weg. Die Zeitung habe ich im Müll gefunden.« Noch während ich die Fakten berichtete, merkte ich, daß irgend etwas an der Situation mir zu schaffen machte. Die Zufälle — Wendell Jaffe in diesem obskuren mexikanischen Ferienhotel... Brian, der aus dem Gefängnis ausbricht und schnurstracks die mexikanische Grenze ansteuert. Ein Funke des Begreifens blitzte auf. »Moment mal, Mac. Ich habe eben einen kleinen Geistesblitz gehabt. Weißt du, was mir gerade gekommen ist? Vom ersten Moment an, als
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