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Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Titel: Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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schon ein Tag am Schreibtisch würde sie verrückt machen. Das weißblonde Haar trägt sie aus dem Gesicht gebürstet, wie von einem starken Wind nach hinten geblasen. Ihre Haut ist frisch und von der Sonne gebräunt, ihre Wimpern sind fast weiß, ihre Augen meerblau. Sie kleidet sich konservativ: enge Röcke mittlerer Länge, Blazer in gedämpften Farben, langärmelige Blusen vom immer gleichen langweiligen Schnitt. Wenn man sie sieht, hat man den Eindruck, sie würde viel lieber in einem Kanu ein Wildwasser hinunterpaddeln oder zerklüftete Felswände hinaufklettern. Ich habe gehört, daß sie in ihrer Freizeit genau das tut — sie unternimmt ausgedehnte Wanderungen in die High Sierras. Weder Zecken noch Steilwände, Giftschlangen, umgestürzte Bäume, spitze Steine, Stechmücken oder andere reizende Aspekte der freien Natur, die ich um jeden Preis zu meiden trachte, können sie schrecken.
    Sie lächelte mir zu, als sie mich sah. »Ah, Sie sind wieder da. Wie war’s in Mexiko? Sie sind ja richtig orangerot geworden.«
    Ich war gerade wieder dabei mich zu schneuzen, und mein Gesicht war vom beschwerlichen Aufstieg in den zweiten Stock gerötet. »Es war großartig. Ich habe mich köstlich amüsiert und mir auf dem Rückflug gleich noch eine Erkältung geholt. Dann lag ich erst mal zwei Tage im Bett. Und die Farbe kommt aus der Dose.«
    Sie zog eine Schublade ihres Schreibtischs auf und brachte eine Bonbondose zum Vorschein, die mit großen weißen Kapseln gefüllt war. »Vitamin C. Nehmen Sie eine Handvoll. Die helfen.«
    Gehorsam nahm ich eine Kapsel und hielt sie ans Licht. Sie war leicht zweieinhalb Zentimeter lang. Wenn die einem im Hals steckenblieb, war bestimmt ein sofortiger chirurgischer Eingriff nötig, um sie wieder herauszuholen.
    »Nehmen Sie ruhig ein paar, und versuchen Sie’s mit Zink, wenn Sie Halsschmerzen haben. Wie war es in Viento Negro? Haben Sie die Ruinen gesehen?«
    Ich nahm mir noch ein paar von den Kapseln. »Ganz nett. Ein bißchen windig. Welche Ruinen?«
    »Na hören Sie mal! Die Ruinen sind berühmt. Da war irgendwann — ich glaube, es war 1902 — mal ein gewaltiger Vulkanausbruch, bei dem der ganze Ort innerhalb von Stunden unter Asche begraben war.«
    »Die Asche habe ich gesehen«, bemerkte ich.
    Ihr Telefon läutete, und während sie den Anruf entgegennahm, ging ich zum Wasserautomaten im Korridor und ließ mir einen Pappbecher einlaufen. Erst schluckte ich das Vitamin C, dann gleich noch ein Antihistamin. Mehr Freude am Leben durch Chemie. Ich ging weiter zu meinem Büro, schloß auf und öffnete eines der Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Auf meinem Schreibtisch lag ein Stapel Post: einige wenige Schecks, der Rest war Werbung und ähnlicher Quatsch. Ich hörte die Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab — es waren sechs — und brachte die nächsten dreißig Minuten damit zu, mein Büroleben zu ordnen. Ich legte eine Akte für Wendell Jaffe an und heftete die Zeitungsartikel über den Gefängnisausbruch und die erneute Festnahme seines Sohnes ein.
    Um neun Uhr rief ich bei der Polizeidienststelle Santa Teresa an und fragte nach Sergeant Robb. Erst verspätet wurde mir bewußt, daß ich ziemlich heftiges Herzklopfen hatte. Ich hatte Jonah seit einem Jahr nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht, ob man unsere Beziehung je als »Romanze« hätte bezeichnen können. Als ich ihn kennenlernte, lebte er von seiner Frau Camilla getrennt. Sie hatte ihn verlassen und die beiden gemeinsamen Töchter mitgenommen. Jonah hatte sie einen Gefrierschrank voll vorgekochter Menüs hinterlassen, die sie im Recyclingverfahren in gebrauchten Behältern kommerzieller Fertiggerichte eingefroren hatte. Die Zubereitungsanweisungen, die sie auf die Deckel geklebt hatte, besagten immer das gleiche: »Im Rohr bei 200 Grad 30 Min. backen. Folie entfernen und essen.« Als würde er allen Ernstes versuchen zu essen, ohne die Folie zu entfernen. Jonah schien das nicht für sonderbar zu halten, und das hätte mir eigentlich ein Hinweis sein müssen.
    Theoretisch war er ein freier Mann. Praktisch hatte sie ihn fest an der Leine. Sie pflegte regelmäßig zurückzukommen und ihn zu drängen, mit ihr gemeinsam in eine Therapie zu gehen. Für jede Versöhnung trieb sie einen neuen Eheberater auf und stellte damit sicher, daß ein echter Fortschritt nie gemacht wurde. Wenn auch nur Aussichten bestanden, daß sich zwischen ihnen eine echte Beziehung entwickeln könnte, haute sie wieder ab.
    Ich sagte mir

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