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Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser

Titel: Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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mich. Er hätte mich drängen können zu handeln. Er hätte mir einen Aktionsplan vorschlagen können. Statt dessen sagte er mir genau das, was ich ihm sagte. Alles klang so viel vernünftiger, wenn ich es sagte. Was er wiederholte, wirkte verbohrt und halsstarrig. Ich verstand nicht, was mit ihm los war, aber vielleicht war das ja eine verrückte Reaktion auf den vielen raffinierten Zucker in den Brownies.
    Das Gespräch wandte sich William und Rosie zu. Da gab es nichts Neues zu berichten. Sport und Politik wurden jeweils mit einem Satz abgehandelt. Kurz danach trottete ich verdrießlicher Stimmung nach Hause. Henry schien sich ganz wohl zu fühlen, aber mir kam es so vor, als hätten wir einen furchtbaren Krach gehabt. Ich schlief auch nicht besonders gut.

    Um fünf Uhr neunundfünfzig regnete es immer noch, und ich verzichtete aufs Laufen. Meine Erkältung hatte sich weitgehend gebessert, aber ich hielt es dennoch nicht für empfehlenswert, im strömenden Regen herumzusausen. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß ich vor einer Woche noch am Pool in Mexiko gelegen und mich von oben bis unten eingecremt hatte. Ich blieb noch ein Weilchen liegen und starrte zum Oberlicht hinauf. Die Wolken hatten die Farbe alter galvanisierter Rohre, und der Tag schrie förmlich nach ernster Lektüre. Ich streckte einen Arm in die Höhe und begutachtete die künstliche Sonnenbräune, die nunmehr zu einem hellen Pfirsichton verblaßt war. Ich hob ein Bein und bemerkte zum erstenmal die vielen Flecken rund um den Knöchel. Rasieren könnte ich mich auch mal wieder. Das sah ja aus, als hätte ich Angorakniestrümpfe an. Gelangweilt von der Selbstbetrachtung, wälzte ich mich schließlich aus dem Bett. Ich duschte, rasierte mir die Beine und zog mich an. Frische Jeans und einen Baumwollpulli zur Feier meines bevorstehenden Mittagessens mit Harris Brown. Dann ging ich frühstücken und stopfte mich mit Fetten und Kohlehydraten voll, diesen natürlichen Antidepressiva. Ida Ruth hatte mir gesagt, sie würde heute später kommen, und mir erlaubt, meinen Wagen auf ihren Parkplatz zu stellen. Punkt neun ritt ich im Büro ein.
    Alison hing am Telefon, als ich kam. Wie ein Verkehrspolizist hob sie eine Hand zum Zeichen, daß sie eine Nachricht hatte. Ich blieb stehen und wartete auf eine Pause in ihrem Gespräch.
    »Nein, nein, das ist völlig in Ordnung, kein Problem. Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte sie und legte die Hand über die Sprechmuschel, während ihr Gesprächspartner am anderen Ende offenbar etwas erledigte. »Ich habe Ihnen jemanden ins Büro gesetzt. Ich hoffe, das war richtig. Ich stelle vorläufig keine Anrufe zu Ihnen durch.«
    »Warum nicht?«
    Ihre Aufmerksamkeit wurde wieder am Telefon verlangt. Ich zuckte mit den Achseln und ging durch den Korridor zu meinem Büro, dessen Tür offen war. Am Fenster stand mit dem Rücken zu mir eine Frau.
    Ich ging zum Schreibtisch und warf meine Handtasche auf den Sessel. »Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?«
    Sie drehte sich um und sah mich mit jener gespannten Neugier an, die man normalerweise Prominenten vorbehält, die man zum erstenmal aus der Nähe sieht. Und ich sah sie genauso an. Wir hätten Schwestern sein können, so ähnlich waren wir uns. Ihr Gesicht war mir so vertraut wie die Gesichter in einem Traum, auf Anhieb erkennbar, aber bei näherem Hinsehen doch fremd. Keinesfalls waren unsere Gesichtszüge identisch. Sie sah nicht wie ich aus, sondern so, wie ich meinte, daß ich in den Augen anderer aussah. Noch während ich sie musterte, schwand die Ähnlichkeit dahin. Sie war höchstens einen Meter fünfundfünfzig, ich hingegen zehn Zentimeter größer, und sie war dicker, so als äße sie zu üppig und bewege sich zu wenig. Ich lief seit Jahren und wurde mir manchmal bewußt, auf welche Weise mein Körper sich durch die vielen, vielen Meilen, die ich im Lauf der Jahre hinter mich gebracht hatte, verändert hatte. Sie hatte mehr Busen und ein breiteres Gesäß. Dafür war sie gepflegter als ich. Ich bekam eine Ahnung davon, wie ich hätte aussehen können, wenn ich mir einmal einen ordentlichen Haarschnitt geleistet, die Grundlagen des richtigen Make-ups gelernt und mich mit Flair gekleidet hätte. Das Ensemble, das sie anhatte, war aus cremefarbener Waschseide: ein langer, leicht gereihter Rock mit einer passenden losen Jacke darüber und einem korallenroten Oberteil darunter. Die fließenden Linien, die das Auge ablenkten, kaschierten wirksam ihre

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