Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
konnte man das Innere des Gebäcks sehen, dunkel und feucht wie Humus, mit Walnüssen und Schokoladensplittern gespickt. Henry nahm das erste rechteckige Stück mit einem Kuchenheber heraus und reichte es mir. Danach aßen wir direkt vom Blech.
Ich goß jedem von uns eine Tasse Tee ein und gab meinem Milch hinzu. Ich zerbrach ein Brownie in zwei Hälften und teilte es noch einmal. Das war meine Vorstellung vom Kaloriensparen. Mein Mund schwamm in warmer Schokolade, und wenn ich laut schmatzte, so war Henry zu höflich, um davon Notiz zu nehmen.
»Ich habe eine merkwürdige Entdeckung gemacht«, sagte ich. »Es ist möglich, daß ich hier in der Gegend Familie habe.«
»Wie meinst du das?«
»Na, du weißt schon, Leute mit dem gleichen Namen, die behaupten, verwandt zu sein, Blutsbande, wie es so schön heißt.«
Er sah mich mit Interesse an. »Tatsächlich? Na, das ist aber wirklich eine Überraschung. Wie sind sie?«
»Keine Ahnung. Ich kenne sie noch nicht.«
»Ach so, ich dachte, du hättest sie schon kennengelernt. Woher weißt du von ihrer Existenz?«
»Ich habe gestern in Perdido eine Haus-zu-Haus-Befragung gemacht. Und da sagte eine Frau, ich käme ihr so bekannt vor, und fragte mich nach meinem Namen. Dann wollte sie wissen, ob ich mit den Burton Kinseys in Lompoc verwandt sei. Ich sagte nein, aber danach habe ich mir die Heiratsurkunde meiner Eltern angesehen. Der Vater meiner Mutter war Burton Kinsey. Weißt du, es ist so, als hätte ich das tief drinnen immer gewußt und mich nur nicht damit befassen wollen. Komisch, nicht?«
»Und was tust du jetzt?«
»Das weiß ich noch nicht. Erst mal überlegen. Wer weiß, was da auf mich zukommt.«
»Die Büchse der Pandora, hm?«
»Du sagst es. Kann ganz übel werden.«
»Vielleicht aber auch nicht.«
Ich schnitt eine Grimasse. »Ich will das Risiko nicht eingehen. Ich habe nie Familie gehabt. Was sollte ich jetzt mit einer anfangen?«
Henry lächelte vor sich hin. »Was meinst du denn, was du mit ihr anfangen würdest?«
»Keine Ahnung. Ich find’s unheimlich. Es wäre bestimmt nervig. Denk an William. Er macht dich doch ganz verrückt.«
»Aber ich habe ihn lieb. Und darum geht es doch, nicht wahr?«
»Ja?«
»Du tust natürlich, was du für richtig hältst, aber eins steht fest, Blut ist dicker als Wasser.«
Ich schwieg eine Weile, aß ein Stück Brownie, das die Form des Staates Utah hatte. »Ich glaube, ich werde erst mal abwarten. In dem Moment, in dem ich Kontakt aufnehme, gibt’s nämlich kein Zurück.«
»Weißt du etwas über die Leute?«
»Nein.«
Henry lachte. »Na, wenigstens begeistern dich die Möglichkeiten.«
Ich lächelte unbehaglich. »Ich hab’s erst heute erfahren. Außerdem weiß ich nur von einer Verwandten mit Gewißheit — der Mutter meiner Mutter, Cornelia Kinsey. Mein Großvater ist, glaube ich, gestorben.«
»Ah, deine Großmutter ist Witwe. Das ist ja interessant. Woher willst du wissen, daß sie nicht genau die richtige für mich wäre?«
»Das ist ein Gedanke«, sagte ich trocken.
»Nun komm schon. Was macht dir solche Angst?«
»Wer sagt denn, daß ich Angst habe? Ich habe keine Angst.«
»Warum meldest du dich dann nicht?«
»Angenommen, sie ist bissig und herrschsüchtig?«
»Angenommen, sie ist klug und liebevoll?«
»Hm. Wenn Sie so verdammt liebevoll ist, warum hat sie sich dann neunundzwanzig Jahre lang nicht gemeldet?« fragte ich.
»Vielleicht war sie beschäftigt.«
Mir fiel auf, wie sprunghaft unser Gespräch war. Wir kannten uns gut genug, um auf Übergänge verzichten zu können, Dennoch hatte ich ein Gefühl, als hätte ich ein Brett vor dem Hirn. »Überhaupt, wie soll ich das denn anstellen? Wie soll ich das machen?«
»Ruf sie an. Sag hallo. Mach dich mit ihr bekannt.«
Ich wand mich. »Das tu’ ich bestimmt nicht«, widersprach ich. »Ich warte erst mal ab.«
»Stur« wäre wahrscheinlich das geeignete Wort gewesen, um meine Haltung zu beschreiben, obwohl ich sonst gar nicht der sture Typ bin.
»Na schön, dann warte ab«, meinte er mit einem leichten Achselzucken.
»Das mache ich auch. Genau. Überleg doch bloß mal, wieviel Zeit seit dem Tod meiner Eltern vergangen ist. Es wäre doch seltsam, mich jetzt zu melden.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
»Weil es die Wahrheit ist.«
»Na schön, dann melde dich eben nicht. Du hast völlig recht.«
»Genau. Ich werde mich überhaupt nicht rühren«, sagte ich gereizt. Seine Bereitwilligkeit, mir zuzustimmen, irritierte
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