Kinsey Millhone 10 - Stille Wasser
verdrängten jetzt die Essensgerüche die letzten Nachwehen von Jerry Irwins Ausdünstungen.
Als ich Renatas Haus erreichte, sah ich gleich, daß das Tor der großen Doppelgarage offen war. Von dem Jaguar war keine Spur zu sehen. Immerhin sah ich über den Zaun hinweg zwei sachte schwankende Holzmasten am Anlegeplatz. Das Boot war also da. Im Haus brannte kein Licht, und alles war still. Ich stellte mich mit meinem VW vielleicht drei Häuser weiter unter einen Baum und vertilgte mein verspätetes Mittagessen, wobei mir zum Schluß einfiel, daß ich schon einmal zu Mittag gegessen hatte. Ich sah auf meine Uhr. Aber das war Stunden her. Also, zwei jedenfalls.
Dann wartete ich. Da mein Autoradio nicht funktionierte, und ich nichts zu lesen mit hatte, wandten sich meine Gedanken beinahe wie von selbst dem jähen Neuerwerb von Familienbeziehungen zu. Was sollte ich mit diesen Leuten angefangen? Mit Großmutter, Tanten, Cousinen in allen Variationen — die sich alle meinetwegen keine grauen Haare hatten wachsen lassen. Die Gefühle, die sich da meldeten, hatten etwas Beunruhigendes. Und die meisten waren negativ. Ich hatte nie einen Gedanken an die Tatsache verschwendet, daß mein Vater Briefträger gewesen war. Ich hatte es natürlich gewußt, aber dieses Wissen hatte keinen besonderen Eindruck gemacht, und ich hatte im allgemeinen keinen Anlaß, über die Bedeutung der Tatsache nachzudenken. Nachrichten zu überbringen — gute und schlechte, Forderungen und Überweisungen, Abrechnungen, Dividendenschecks, Geburtsanzeigen und Nachrichten vom Tod alter Freunde, Liebesbriefe und Abschiedsbriefe — , das war die Aufgabe, die ihm in dieser Welt zugefallen war, eine Tätigkeit, die in den Augen meiner Großmutter offenbar zu minderwertig gewesen war, um Beachtung zu verdienen. Vielleicht hatten es Burton und Grand wirklich für ihre Pflicht gehalten, dafür zu sorgen, daß meine Mutter bei ihrer Verheiratung eine gute Wahl traf. Ich hatte das Gefühl, meinen Vater verteidigen, in Schutz nehmen zu müssen.
Mit ihren Offenbarungen hatte Liz mir die Augen für Dramen geöffnet, die sich ohne mein Wissen abgespielt hatten: Zerwürfnisse und Rituale, sanfte Frauenstimmen, rauhes Gelächter, gemütliches Geplauder bei einer Tasse Kaffee in der Küche, Familienessen, Geburten, gute Ratschläge, handgestickte Wäsche, die von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Das Bild einer Familie wie aus der Frauenzeitschrift: üppige Fülle, Zimtduft, Tannenzweige und Christbaumschmuck, Footballspiele am Farbfernseher, Onkel, die vom vielen Essen schläfrig eindösten, Kinder, die völlig überdreht waren, weil sie ihren Mittagsschlaf versäumt hatten. Im Vergleich dazu erschien meine Welt grau und leer, und ausnahmsweise empfand ich dieses spartanische, einfache Leben ohne allen Firlefanz, das mir so teuer war, als fade und arm.
Fast gelähmt vor Langeweile, streckte ich mich. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß Renata Huff überhaupt kommen würde. Überwachungsarbeit hat der Teufel gesehen. Es ist die Hölle, fünf oder sechs Stunden am Stück dazusitzen und ein Haus anzuglotzen. Es ist schwer, aufmerksam zu bleiben. Es ist schwer, nicht zu sagen, ach, habt mich doch gern. Im allgemeinen muß ich es als Zen-Meditation sehen und mir vorstellen, ich sei mit meiner höheren Macht in Kontakt und nicht nur mit meiner Blase.
Es wurde langsam Abend. Ich sah zu, wie die Farbe des Himmels sich veränderte. Die Temperatur fiel merklich. Die Sommerabende sind im allgemeinen kühl, und bei diesem Sturmtief, das da irgendwo vor der Küste lauerte, schienen die Tage so kurz, als sei vorzeitig der Herbst gekommen. Eine Nebelbank wälzte sich herein, eine Wand dunkler Wolken vor dem rasch dichter werdenden Kobaltblau des Abendhimmels. Ich kreuzte wärmesuchend die Arme über meiner Brust und rutschte tiefer in meinen Sitz. So verstrich wohl eine weitere Stunde.
Ich merkte, wie ich schläfrig wurde, und mir immer wieder die Augen zufallen wollten. Ich setzte mich gerade und bemühte mich ganz bewußt, wach zu bleiben. Das hielt ungefähr eine Minute an. Diverse Körperteile begannen zu schmerzen, und ich mußte daran denken, wie kleine Kinder weinen, wenn sie müde sind. Wachbleiben wird zur körperlichen Qual, wenn der Körper Ruhe braucht. Ich setzte mich seitlich. Ich zog die Knie hoch und schwang meine Füße auf den Beifahrersitz. Ich drehte mich und lehnte mich mit dem Rücken an die Autotür. Ich kam mir vor wie betrunken, kämpfte
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