Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
ersten Momenten ihres Auftritts war es schwer, sich die Obszönitäten vorzustellen, die bald folgen sollten. Anfangs gab sie sich unbeteiligt und schien sich insgeheim zu amüsieren. Später war sie schamlos, beherrscht und ernsthaft, vollkommen auf sich und ihre Gefühle konzentriert.
Zu Beginn des Films wollte ich eigentlich im Schnellvorlauf sämtliche Szenen übergehen, in denen sie nicht vorkam, aber das wirkte bald komisch — The Perils of Pauline mit ständig hin- und herflatternden Geschlechtsteilen. Ich versuchte ebenso unbeteiligt zu sein, wie ich es an Mordschauplätzen bin, doch die Taktik schlug fehl, und ich merkte, wie unangenehm es mir wurde. Ich nehme die Erniedrigung von Menschen nicht auf die leichte Schulter, insbesondere dann nicht, wenn sie nur als Mittel zur Bereicherung anderer dient. Ich habe gehört, daß die Pornoindustrie größer sei als die Platten- und Filmindustrie zusammen und daß im Namen von Sex schwindelnde Beträge den Besitzer wechseln. Wenigstens kam in diesem Video fast keine Gewalt vor, und es gab auch keine Szenen mit Kindern oder Tieren.
Während die Handlung nicht der Rede wert war, hatte der Regisseur zumindest einen Versuch unternommen, Spannung zu schaffen. Lorna spielte eine dämonische, sexuelle Erscheinung, die sowohl Ehemann als auch Ehefrau verfolgte, welche splitternackt durchs Haus rannten. Außerdem fiel sie noch über einen Klempner namens Harry her, der in einer der Szenen auftauchte, die ich beim ersten Mal übersprungen hatte. Lornas Auftritte wurden häufig von Rauchwolken angekündigt, und eine Windmaschine blies ihr durchsichtiges Gewand nach oben. Als es zur Sache ging, kamen viele Nahaufnahmen, liebevoll gestaltet von einem Kameramann mit einer Leidenschaft für sein Zoomobjektiv.
Ich stellte das Band aus und untersuchte die Verpackung. Die Produktionsfirma nannte sich Cyrenaic Cinema und hatte eine Adresse in San Francisco. Cyrenaic? Was hieß denn das? Ich zog mein Lexikon aus dem Regal und sah unter dem Stichwort nach. »Cyrenaic: nach der griechischen Philosophenschule, gegründet von Aristipp von Kyrene, der das sinnliche Vergnügen des Individuums als höchstes Gut ansah.« Gut, irgend jemand war also gebildet. Ich rief die Telefonauskunft für das Gebiet mit der Vorwahl 415 an. Eine Telefonnummer war nicht eingetragen, aber vielleicht kam ich mit der Adresse weiter. Auch wenn Janice und ich uns einig wurden, war ich mir nicht sicher, ob sie eine Fahrt nach San Francisco finanzieren wollte.
Ich ging die Papiere durch, die sie mir gegeben hatte und sortierte sie nach Zeitungsausschnitten und Polizeiberichten. Den Autopsiebericht las ich mit besonderer Aufmerksamkeit und übersetzte die technischen Einzelheiten in mein laienhaftes Verständnis. Die grundlegenden Tatsachen waren in etwa so abstoßend wie der Film, den ich gerade gesehen hatte, wurden allerdings nicht durch abgedroschene Dialoge aufgelockert. Als Lornas Leiche entdeckt wurde, war der Verwesungsprozeß praktisch bereits abgeschlossen. Eine erste Untersuchung ergab äußerst wenig Bedeutsames, da sämtliches weiche Gewebe zu einer schmierigen Masse zusammengefallen war. Maden hatten rasch alles weitere erledigt. Die Untersuchung des Körperinneren bestätigte das Fehlen sämtlicher Organe, und es waren nur geringe Gewebereste von Gastrointestinaltrakt, Leber und Blutkreislauf übriggeblieben. Auch die Gehirnmasse hatte sich vollständig verflüssigt oder ganz aufgelöst. Das Knochengerüst zeigte weder Anzeichen stumpfer Gewalteinwirkung noch Stich- oder Schußwunden, Ligaturen oder zerschmetterte oder gebrochene Knochen. Zwei alte Brüche waren vermerkt, aber offensichtlich hatte keiner etwas mit ihrem Tod zu tun. Die Labortests, die noch machbar waren, konnten weder Drogen noch Gift in ihrem Körper nachweisen. Beide Zahnreihen wurden komplett entnommen und mitsamt den zehn Fingern aufbewahrt. Die zweifelsfreie Identifikation wurde aufgrund zahnärztlicher Unterlagen und einem Rest des rechten Daumenabdrucks vorgenommen. Fotografien lagen nicht bei, aber ich nahm an, daß die bei ihrer Akte im Polizeirevier zu finden wären. Hochglanzabzüge von der Autopsie hätte man wohl kaum an ihre Mutter weitergegeben.
Es war nicht möglich gewesen, Tag oder Zeitpunkt ihres Todes festzulegen, aber anhand mehrerer Umweltfaktoren konnte eine grobe Schätzung vorgenommen werden. Unzählige Personen waren befragt worden und bezeugten ihre Vorliebe fürs Nachtleben. Außerdem gehörte es
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