Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
hatte. Er bat mich herein, und während wir sprachen, fütterte er mich mit der ersten von unzähligen hausgemachten Zimtschnecken, die ich seither in seiner Küche verzehrt habe.
Offenbar hatte er ebenso viele Bewerber gesprochen wie ich Hausbesitzer. Er suchte einen Mieter ohne Kinder, abstoßende Angewohnheiten oder einen Hang zu lauter Musik. Ich suchte einen Vermieter, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Henry war mir sympathisch, weil ich mir dachte, daß ich bei seinem Alter von über achtzig Jahren vor Nachstellungen sicher sein konnte. Ich gefiel ihm wahrscheinlich, weil ich eine Misanthropin war. Ich war zwei Jahre lang Polizistin gewesen und hatte weitere zwei Jahre damit zugebracht, die viertausend Stunden anzusammeln, die für die Erteilung einer Lizenz als Privatdetektiv erforderlich waren. Ich hatte mir vorschriftsmäßig die Fingerabdrücke abnehmen lassen, war fotografiert, vereidigt und beglaubigt worden. Da die Tätigkeit, mit der ich mir in erster Linie den Lebensunterhalt verdiente, mich mit der Schattenseite der menschlichen Natur in Kontakt brachte, hielt ich schon damals andere Menschen auf Distanz. Mittlerweile habe ich gelernt, höflich zu sein. Ich kann mich sogar freundlich geben, wenn meine Zwecke es erfordern, aber ich bin nicht gerade für meine reizende, mädchenhafte Art bekannt. Als Einzelgängerin bin ich auch eine ideale Nachbarin: ruhig, zurückgezogen, unaufdringlich und oft nicht da.
Ich schloß meine Tür auf und machte das Licht im Erdgeschoß an, zog die Jacke aus, schaltete den Fernseher ein, drückte den Knopf für den Videorecorder und schob Lorna Keplers Band in das Gerät. Ich sehe wenig Sinn darin, nun jedes einzelne gräßliche Detail über den Inhalt wiederzugeben. Sagen wir einfach, daß die Handlung schlicht und eine Entwicklung der Figuren nicht vorhanden war. Darüber hinaus waren die schauspielerischen Darbietungen miserabel, und es kam jede Menge simulierter Sex vor, der allerdings eher lächerlich als lüstern wirkte. Vielleicht war es aber auch nur mein Unbehagen gegenüber dem Thema, das die ganze Sache laienhaft aussehen ließ. Der Abspann erstaunte mich, und ich spulte zurück und las alles noch einmal von Anfang an. Es gab einen Produzenten, einen Regisseur und einen Cutter, deren Namen allesamt real klangen: Joseph Ayers, Morton Kasselbaum und Chester Ellis. Ich hielt das Band an und schrieb sie ab, dann drückte ich erneut auf die Taste und ließ es weiterlaufen. Ich vermutete, daß die Darsteller Pseudonyme benutzten, wie etwa Biff Mandate, Cherry Ravish oder Randi Bottoms, doch Lorna Kepler kam vor, daneben zwei andere — Russell Turpin und Nancy Dobbs, deren recht alltägliche Namen ich nebenbei notierte. Es schien keinen Drehbuchautor zu geben, aber ich vermute, daß pornographische Filme kein großartiges Drehbuch benötigen. Als Geschichte hätte es sowieso eine seltsame Lektüre abgegeben.
Ich fragte mich, wo der Film gedreht worden war. Angesichts der Höhe, die ich für das Budget eines Pornofilms ansetzte, würde wohl niemand besondere Räumlichkeiten anmieten oder sich um Drehgenehmigungen bemühen. Der Film bestand zum größten Teil aus Innenaufnahmen, die überall gedreht worden sein konnten. Der Hauptdarsteller, Russell Turpin, war wohl aufgrund gewisser persönlicher Attribute engagiert worden, die er von allen Seiten präsentierte. Er und Nancy, die offenbar ein Ehepaar darstellten, räkelten sich nackt auf ihrem Wohnzimmersofa, schwangen obszöne Reden und unterwarfen einander verschiedenen sexuellen Demütigungen. Nancy wirkte verlegen, und ihr Blick schweifte immer wieder zu einem Punkt links von der Kamera, wo ihr offensichtlich jemand mit lautlosen Lippenbewegungen signalisierte, was sie sagen sollte. Auf manchen Grundschulaufführungen habe ich schon größere Begabungen gesehen. Jegliche Leidenschaft, die sie mimte, schien sie in anderen Pornofilmen gesehen zu haben, und ihre wichtigste darstellerische Leistung bestand darin, sich lasziv über den Mund zu lecken, was meiner Meinung nach eher aufgesprungene Lippen als Erregung zur Folge hatte. Ich nahm an, daß sie engagiert worden war, weil sie im Zeitalter der Strumpfhose als einzige echte Strapse besaß.
Lorna war die Hauptattraktion, und ihr Erscheinen sollte die größtmögliche Wirkung erzielen. Sie schien gar nicht an die Kamera zu denken. Ihre Bewegungen waren graziös und lässig, und sie verbarg ihre Erfahrenheit nicht. Sie wirkte elegant, und in den
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