Kinsey Millhone 11 - Frau in der Nacht
Abweisend.
»Möchten Sie mit dem Geld anfangen, das Sie Lorna gestohlen haben?«
»Sie brauchen nicht so zu tun«, sagte sie. »Ich habe es nicht direkt gestohlen.«
»Ich höre.«
Sie schien sich zu winden und zu überlegen, wieviel sie mir »anvertrauen« sollte. »Ich erzähle Ihnen das unter dem Siegel der Verschwiegenheit, okay?« sagte sie.
Ich hielt in Pfadfindermanier die Hand hoch. Ich liebe Geheimnisse, je vertraulicher, desto besser. Wahrscheinlich würde ich sie verpfeifen, aber das brauchte sie ja nicht zu wissen.
Sie zierte sich noch ein Weilchen und bewegte den Mund, während sie sich überlegte, wie sie es formulieren sollte. »Lorna hat angerufen und Mom erzählt, daß sie verreisen würde. Mom hat mir erst später davon berichtet, direkt bevor sie zur Arbeit ging. Ich war ganz bestürzt, weil ich wegen dieser Reise nach Mazatlán mit Lorna sprechen mußte. Sie hatte angedeutet, daß sie mir vielleicht aushelfen könnte, und deshalb bin ich zu ihr rübergegangen. Ihr Auto stand da, aber drinnen brannte kein Licht, und sie hat nicht auf mein Klopfen reagiert. Ich dachte mir, daß sie wohl aus sein müsse. Gleich am nächsten Morgen bin ich wieder vorbeigegangen, da ich sie noch erwischen wollte, bevor sie abreiste.«
»Um wieviel Uhr war das?«
»Vielleicht neun oder halb zehn. Ich sollte an diesem Tag bis zwölf Uhr das Geld ins Reisebüro bringen, sonst hätte ich meine Anzahlung verloren. Ich hatte ihnen bereits tausend Dollar gezahlt, und ich mußte den Restbetrag haben, sonst wäre alles verfallen, was ich angezahlt hatte.«
»Das war für die Reise, die Sie letzten Herbst gemacht haben?«
»Ja.«
»Wie sind Sie auf die Idee gekommen, daß Lorna Geld hätte?«
»Lorna hatte immer Geld. Das wußten alle. Manchmal war sie großzügig und manchmal nicht. Es hing von ihrer Laune ab. Außerdem hatte sie mir zugesagt, daß sie mir helfen würde. Sie hatte es praktisch versprochen .«
Eigentlich wollte ich sie noch eingehender befragen, hielt es dann aber für besser, die Angelegenheit zunächst auf sich beruhen zu lassen. »Und weiter?«
»Tja, ich habe an ihre Tür geklopft, aber sie hat nicht reagiert. Ich sah, daß ihr Auto immer noch dastand und dachte, sie wäre vielleicht unter der Dusche oder so, und da habe ich die Tür aufgemacht und hineingespäht. Sie lag auf dem Boden. Ich war so entsetzt, daß ich nicht einmal denken konnte.«
»War die Tür am Abend zuvor verschlossen gewesen oder nicht?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe sie nicht ausprobiert. Ich habe nicht einmal daran gedacht. Jedenfalls habe ich sie am Arm angefaßt, und sie war ganz kalt. Ich wußte, daß sie tot war. Das habe ich auf den ersten Blick erkannt. Ihre Augen standen weit offen, und sie starrte nur. Es war echt brutal.«
»Und dann?«
»Ich habe mich gräßlich gefühlt. Es war furchtbar. Ich habe mich hingesetzt und zu weinen angefangen.« Sie blinzelte und äugte durch die Windschutzscheibe, die für meinen Geschmack etwas zu staubig war. Ich nahm an, daß sie versuchte, sich eine Träne abzuringen, um mich mit der Ernsthaftigkeit ihrer Pein zu beeindrucken.
»Sie haben nicht die Polizei gerufen?« fragte ich.
»Ah — nein.«
»Warum nicht? Ich möchte nur wissen, in welcher Verfassung Sie waren.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie mißmutig. »Ich hatte Angst, sie würden denken, ich sei es gewesen.«
»Warum sollten sie das denken?«
»Ich konnte nicht einmal beweisen, wo ich zuvor gewesen bin, weil ich allein zu Hause war. Mom war zwar da, aber sie hat geschlafen, und Trinny hatte damals noch einen Job. Ich meine, was, wenn ich verhaftet worden wäre? Mom und Dad wären gestorben .«
»Ich verstehe. Sie wollten sie schützen«, sagte ich ausdruckslos.
»Ich versuchte, darüber nachzudenken, was ich tun sollte. Ich war echt fertig, verstehen Sie? Ich hatte erst kurz zuvor um das Geld gebeten, und jetzt war es zu spät. Und die arme Lorna. Sie tat mir so leid. Ich mußte an all die Dinge denken, die sie nicht mehr tun konnte, wie heiraten oder ein Kind bekommen. Sie würde nie nach Europa reisen —«
»Also haben Sie was getan?« fragte ich und unterbrach ihre Aufzählung. Ihre Stimme begann langsam zu zittern.
Sie zog ein ramponiertes Taschentuch hervor und tupfte sich damit die Nase. »Tja. Ich wußte, wo sie ihre Sparbücher aufbewahrte, und dann habe ich mir ihren Paß und dieses Sparbuch ausgeliehen. Ich war so durcheinander und erledigt, daß ich gar nicht wußte, was ich tun
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